Kennung: 13

Aarau, 4. Dezember 1883 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Greyerz, Minna von

Inhalt

Aarau, in SpitzBiername eines der Lehrer Wedekinds an der Kantonsschule Aarau, der Klarname ist bisher nicht ermittelt. – Offenbar hatten die Lehrer ihre eigenen Zimmer, in denen sich Schüler aufhalten durften, wenn dort kein Unterricht stattfand. So wurden beispielsweise Sitzungen der Schülerverbindung Industria Aarau wiederholt „auf Hr. Professor Leupold’s Lehrzimmer“ [AIA, Protokollbuch 1882, Sitzungen 430-438], außerordentliche Sitzungen auch „auf Hr. Professor Fisch’s Lehrzimmer“ [ebd., 9.6.1882] abgehalten.ens Schulzimmer.


O Sturmwind,

Soeben erhielt ich deinen werthen Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.12.1883. und beeile mich, ihn zu beantworten, da ich heute Nachmittag beschäftigt bin. Weil ich gesternMontag, den 3.12.1883. – Vermutlich war der Zugverkehr zwischen Lenzburg und Aarau, wo Wedekind die Schule besuchte, wegen „Regen und Schneefall“ kurzzeitig eingestellt worden [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 63, Nr. 337, 3.12.1883, Ausgabe 2, S. (2)]. nicht in der Schule war, bekam ich ihn erst heute morgenDienstag, den 4.12.1883.. Er machte allerdings einen höchst eigenthümlichen Eindruck auf mich und wenn dir mein Schreibenvgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 30.11.1883. als „wild dahin brausender Bergstrom“ erschien, so kommt mir deiner vielmehr wie ein kühlender Regenschauer, oder noch besser, wie ein Schneegestöber vor. Es mag dies weniger deine Schuld sein, als eben in der Sache selbst liegen. Ach, wie konnte ich auch erwarten, dasSchreibversehen, statt: daß. du, o du, mich nicht verständ verstehen werdest. |

Allerdings fällt mir erst jetzt wieder ein, wie dunkel und verworren meine Worte waren; aber du hast mich auch gar nicht, in keiner Weise, verstanden. Oder wäre es möglich? Sollte es vielleicht nur Malice(frz.) Bosheit, Tücke. nur RanküneRankune (frz.) Groll; Rachsucht. sein, die mir das Geständniß in seinem ganzen Umfang aus dem Herzen pressen soll? – Nach dem was ich bei Hartman und Golz über die FrauenDerartige Urteile konnte Wedekind in Eduard von Hartmanns „Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins“ (1879) sowie in Bogumil Goltz’ vielgelesener Abhandlung „Zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen“ (1859) in großer Zahl finden. Hartmann spricht Frauen z. B. die Fähigkeit zu moralischem Handeln nach Vernunftprinzipien ab; „Rechtlichkeit und Gerechtigkeit“ seien „die Charaktereigenschaften, welche von allen bisher betrachteten moralischen Triebfedern beim weiblichen Geschlecht im Durchschnitt am schwächsten vertreten“ seien. „Das weibliche Geschlecht ist das unrechtliche und ungerechte Geschlecht“, [...] vom Repressionsrecht mache es „aus Eigennutz“ oder „Rachsucht“ Gebrauch, fast alle Weiber seien „geborene Defraudantinnen aus Passion“ und hätten „zur Lüge“ wie „zur Fälschung [...] eine instinctive Neigung“. [Eduard von Hartmann: Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins. Prolegomena zu jeder künftigen Ethik. Berlin 1879, S. 522f.] Bogumil Goltz meint u. a.: „Die Frauen zeigen alle Liebenswürdigkeiten und Schrecken der elementaren Natur. Sie sind divinatorisch, phantasiereich, naiv, bildkräftig, erfinderisch, witzig, graziös; aber zugleich wetterwendig, farbenwechselnd und in Augenblicken so egoistisch, verhüllend, listig, unwahr und unbarmherzig als die Natur, als die Sinnlichkeit, welche in ihren Metamorphosen ein Ringen nach Einheit und Ruhe, nach dem vernünftigen Geiste darlegt, den sie erst im Manne erlangt.“ [Bogumil Goltz: Zur Charakteristik und Naturgeschichte der Frauen. 2. Auflage, Berlin, 1863, S. 91f.] gelesen habe, läge diese Vermuthung allerdings nicht so schrecklich fern. – So will ich dich denn in deiner Speculation nicht täuschen, sondern im Gegentheil durch blanke, unbemäntelte Aufrichtigkeit die glühendsten Kohlendurch Wohltaten jemanden beschämen; Böses mit Gutem vergelten – biblische Redewendung („Feurige Kohlen auf’s Haupt sammeln“) [Büchmann 1879, S. 37 (Römerbrief 12,20)]. auf Dein Haupt sammeln.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 11 x 17,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Das Schreibdatum ist durch den Briefinhalt impliziert: Da Wedekind am Montag (3.12.1883) nicht in der Schule in Aarau war, hat er das am Sonntag abgefasste Schreiben seiner Cousine [Minna von Greyerz an Wedekind, 2.12.1883] dort erst am Dienstagmorgen (4.12.1883) erhalten und beantwortet es sofort.

  • Schreibort

    Aarau
    4. Dezember 1883 (Dienstag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Aarau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Pharus I. Frank Wedekind. Texte, Interviews, Studien

Titel des Aufsatzes:
Eine Lenzburger Jugendfreundschaft. Der Briefwechsel zwischen Frank Wedekind und Minna von Greyerz.
Autor:
Elke Austermühl
Herausgeber:
Elke Austermühl, Alfred Kessler, Hartmut Vinçon. Editions- und Forschungsstelle Frank Wedekind
Ort der Herausgabe:
Darmstadt
Verlag:
Verlag der Georg Büchner Buchhandlung
Seitenangabe:
362-363
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Historisches Museum Schloss Lenzburg

CH-5600 Lenzburg
Schweiz
Schloss Lenzburg

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
D 542
Standort:
Historisches Museum Schloss Lenzburg (Lenzburg)

Danksagung

Wir danken dem Historischen Museum Schloss Lenzburg für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 4.12.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

02.01.2024 20:26