Stein
a/Rh. den 19 April 1884
Mein lieber Franklin!
Ich danke Dir für Deinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Olga Plümacher, 18.4.1884. und gratulire Dir
von Herzen dazu, daß das Examendie Maturaprüfungen; die öffentliche Zeugnisübergabe fand am 10.4.1884 in der Kantonsschule Aarau statt [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, (Titelseite)]. bestanden ist; das „Wie“In Mathematik, Chemie und Hebräisch hatte Wedekind die Note „ungenügend“ erhalten, in Latein, Griechisch, Französisch, Naturgeschichte Physik „genügend“, in Geschichte „gut“ und in deutscher Sprache und Literatur ein „sehr gut“ [vgl. Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170: Wedekinds Zeugnisse 1884]. hat nun weiter nichts
mehr auf sich, es handelte sich ja doch nur um Fächer die für Deine künftigen
Studien von keiner oder ser/h/r indirecter Bedeutung sind. Es freut mich
auch aufrichtig, daß der frühere Plan, Dich Jurisprudenz studiren zu lassen nun
aufgegebenWedekind durfte (nur) ein Semester an der Académie de Lausanne moderne Sprachen studieren. ist. Es
hätte der Versuch doch nur zu verlorener Zeit und Unzufriedenheit Veranlaßung
gegeben. Das Corpus jurisCorpus juris civilis (lat.); die Rechtssammlung des römischen Zivilrechts, Grundlage des europäischen Rechts., die „Bibel des EgoismusIn seinen „Memoiren“ schreibt Heine: „Welch ein fürchterliches Buch ist das Corpus Juris, die Bibel des Egoismus. Wie die Römer selbst blieb mir immer verhaßt ihr Rechtskodex.“ [DHA, Bd. 15, S. 64]“ wie Heine es nennt, wäre Dir wohl auch so
unerquicklich vorgekommen wie dem „ungezogenen Liebling der | Musengeflügeltes Wort: „Aristophanes, der ungezogene Liebling der Grazien, wie ihn Goethe im Epilog zu seiner Bearbeitung der ‚Vögel‘ nennt“ [Büchmann 1879, S. 176].“ und die juristischen ColegeSchreibversehen, statt: Collegien, Collegia (lat.); Vorlesung. wären wohl gar sehr
oft unbesucht geblieben; wenn aber der Studiosus nicht in’s Coleg geht, so geht
er in der Regel in die Kneipe; es ist also jedenfalls beßer, wenn Du gar nicht
nöthig hast unliebsame
Vorlesungen zu versäumen. Bei Deiner jetzigen Studienwahl wirst Du von Beginn
an viel Interessantes und f/F/eßelndes zu hören bekommen und sehe ich
jetzt mit vollem Vertrauen der Zukunft Deiner Studien entgegen. – Ich bedaure
es aufrichtig, daß die Zeit Dir nicht gestattet vor dem Verlaßen der Heimath einen
Abstecher zu uns zu machen und Hermann theiltOlga Plümachers Sohn, der mit Wedekind befreundete Hermann Plümacher, war gerade zu Besuch in Stein am Rhein. mein Bedauern. – Ueber den Vorschlag HartmannsWie Olga Plümacher ihrer Freundin Emilie Wedekind schrieb, machte der Philosoph Eduard von Hartmann ihr „den Vorschlag eine Tour als Vorleserin, oder vielmehr Vorträgerin über phil. Themata in Deutschland zu machen und hält die Sache für paßend und lohnend und weiß die Sache für mich zu arrangiren.“ [Mü, Olga Plümacher an Emilie Wedekind, 9.4.1884] denkst Du und
Deine liebe Mutter,
wie auch meine Züricher
FreundeBefreundet war Olga Plümacher mit Anna Ganter-Schilling, Tochter des Homöopathen Dr. Joseph und Katharina Schilling-Ganter im Züricher Vorort Hottingen die von 1877 bis 1880 an der Universität Zürich Philosophie studiert hatte [vgl. Matrikeledition Zürich], und mit dem späteren Lehrer der Kantonsschule Aarau, Prof. Dr. Heinrich Ganter, verheiratet war. | doch wohl
etwas zu enthusiastisch. Der Erfolg ist durchaus nicht so sicher. Es stehen mir
große Hinderniße im Wege. Erstens arbeite ich sehr langsam; es wird mir viel
Mühe kosten immer neue Vorträge in Bereitschaft zu halten; zweitens habe ich ein
ganz schlechtes Wortgedächniß, so daß ich es nie
zum freien Vortrag bringen werde; und dieser ist doch der wirksamste; das
Publikum gelangt weniger zur Kritik, wenn man ihm in die Augen schauen kann.
Endlich – last but not least(engl.) zu guter Letzt. – bedenke meine harte
schweizerische Sprache mein „Großraths-Deutsch“, welche Schwierigkeiten mir nur
dieses bereiten wird bis ich etwas abgeschliffen habe, denn so wie ich bis
jetzt gesprochen, kann ich vor einem deutschen Publikum nicht auftreten.
|
In Amerika würde sich die Sache natürlich viel
leichter machen laßen; und mit Rücksicht auf unsere Zukunft dort
will ich mich für einen Versuch vorbereiten. „Im schlimmsten Falle fallen sie
durch und niemand erfährt etwas davon“ schreibt mir Hartmann; das ist aber nicht
so: nichts wird so schnell bekannt als Mißerfolg und wenn ich den Schaden des Mißlingens habe, so
wird mir auch der Spott nicht fehlen, das ist eine alte Wahrheit. Trotzdem will
ich den Versuch wagen, aber ich wage ihn
mit schwerem Herzen. – Den „TraumDen niedergeschriebenen Traum [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 20.2.1884] legte sie ihrem Brief vom 30.6.1884 bei.“ sende ich Dir ’mal; ich möchte noch etwas dran ändern und
habe jetzt keine
Zeit. – Bitte grüße Deine liebe Mutter herzlich von mir; ich werde ihr
nächstens schreiben. Den andern Sack KaffeeOlga Plümacher und ihr Ehemann, der amerikanische Konsul Eugen Hermann Plümacher in Maracaibo (Venezuela), waren im Kaffeehandel tätig. hat sie hoffentlich erhalten. Auch an Frieda herzliche Grüße
und Glückwünsche zum
neuen StandFrank Wedekinds Schwester Erika, die in ihrer Schulzeit (nach ihrem dritten Vornamen) Frieda genannt wurde, wechselte zum neuen Schuljahr (im April 1884) von der Lenzburger Bezirksschule zum Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar nach Aarau. Sie ist für das Schuljahr 1884/85 in der I. Klasse verzeichnet: „Frida Wedekind, San Francisco (Kalifornien)“ [Zwölfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar Aarau. Schuljahr 1884/85, S. 4]. im Kreise der vollgewichtigen Erdenbürger.ab hier am linken Rand im Querformat. Lebe wohl lieber Franklin! möge es Dir
in Lausanne recht
gut gefallen und die Freiheit Dir wohl bekommen und von den Musen und ApolloNach der griech. Mythologie sind die Musen die Töchter des Apollon, des Gottes der Künste und der Musik. gesegnet
sein.
Ich verbleibe Deine aufrichtig zugethane
O Plümacher |
Hermann sendet 1000 Grüße; er ist sehr vergnügt und in s
einem SturmwagenPanzer; Hermann Plümacher dürfte vom 1. Mai bis zum 3. Juli 1884 in Zürich die Rekrutenschule der Schwadronen besucht haben [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 64, Nr. 18, Zweites Blatt, 18.1.1884, S. (2)]. geht
er nach Zürich; wenn
er zurück kommt,
schreibt er.