(Nov 1883)Bei der eingeklammerten Datumsangabe dürfte es sich um eine handschriftliche Ergänzung Sophie Hämmerli-Martis handeln.
Zuerst
dies lesen!
Schloß Lenzburg GeisterstundeDie Stunde nach Mitternacht (= 0-1 Uhr).
Cousine
SturmwindMinna von Greyerz’ Pseudonym im „Fidelitas“ genannten Freundschaftsbund, zu dem sich die Brüder Armin (Boreas) und Frank Wedekind (Zephyr/Cephyr), Minna von Greyerz, Mary Gaudard (Nordpol) und Anny Barck (Glanzpunkt) verschwistert hatten..
„Ich wollt’Zitat („Ich wollt’ meine Schmerzen ergössen / Sich all in ein einziges Wort, / Das gäb’ ich den lustigen Winden, / Die trügen es lustig fort.“) der 1. Strophe des 59. Lieds aus Heines „Buch der Lieder“ [(Reisebilder. Erster Theil), DHA, Bd. 1/1, S. 272]. – Ob die hier wiedergegebenen Abweichungen („wollt’,“ statt: „wollt’“; „sich all’“ statt: „Sich all“; „einziges“ statt: „ein einziges“; „das gäb“ statt: „Das gäb’“; „fort“ statt: „fort.“; „de“ statt: „Die“) auf Wedekind oder Sophie Hämmerli-Marti zurückgehen, ist unklar., meine Schmerzen
ergössen sich all’ in einziges
Wort, das gäb ich den lustigen Winden, de trügen es lustig fort“ – So sang Heine und hat es vielleicht nie empfunden. Ich
aber, der nicht so schön singen kann, ich empfinde es mit der ganzen Glut
meiner Seele. – Dir Sturmwind, will ich keine Schmerzen klagen und so
wird das Heinische Lied
vielleicht zum ersten Mal dramatisch aufgeführt. – Doch zuvor mußt du eine
Geschichte anhören, die mir jüngst in den Sinn kam. Sie spielt zwar nicht erst
jetzt, sondern schon seit undenklichen Zeiten und nicht in Lenzburg sondern im
Weltall. So höre denn:
Einsam
und hülflos stand die junge Menschheit Der allgewaltigen, schrecklichen Natur
gegenüber | und wußte nicht, wohin das Auge wenden, um nicht Grauen und
Schauder zu empfinden. Da sehnte sich ihr zages Herz nach einem trauten
Freunde, dem es sich offenbaren, bei dem es Hülfe suchen durfte. Ach, es fand
ihn nur in eigenen Träumen und Hoffen. So entstand Gott. Aber der unerbittliche
strenge Verstand prüfte mit pedantischer Genauigkeit das Treiben seines Meisters.
Mißtrauisch erforschte er deßen Gedanken. „BesserDas Zitat („Besser gar kein Freund als ein falscher Freund“) dürfte an die Redewendung „Ein offenbarer Feind ist besser als ein Falscher Freund.“ [Wander 1867, S. 967, Nr. 59] angelehnt sein. gar kein Freund als ein falscher Freund“! Und
dann verbannte er auf ewig den frommen Kinderglauben aus meiner (!) arglosen
Seele. Doch kein Unglück
ohne Segenin Anlehnung an das Sprichwort: „Kein Vnglück ist ohn Glück“ [Wander 1870, Bd. 4, Unglück, Nr. 185].: Mit der Verzweiflung an Gott wuchs in mir der Glaube an die
Menschheit und das Verlangen, mit ihr zu verkehren, sie kennen und lieben zu
lernen. Ich glaube nicht, daß mein Herz den Tausch zu bereuen hat. – Soweit die
Theorie. Und die Praxis? ––– |
Das Sonett, welches ich Dir mit diesem Briefe sendeWedekinds Gedicht „Blanche Zweifel“ [vgl. KSA 1/I, S. 181], dessen Titel er in hebräischen Lettern schrieb. Zum Verbleib der nicht überlieferten Beilage äußerte sich Minna von Greyerz 2 Wochen später [vgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 10.12.1883]. entstand letzten Montag Morgenam 26.11.1883.. Du erhältst es
nun zu strenger, rücksichtsloser Kritik. Schone es so wenig, wie ich deine LiederWedekind hatte in dem Gedicht „Die ästhetische Caffeevisite“ eine nicht überlieferte Gedichtsammlung seiner Cousine kritisiert [vgl. Wedekind an Minna von Greyerz, 27.10.1883]. schonte: „Aug um AugGleiches mit Gleichem vergelten nach dem biblischen Rechtsspruch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ [Exodus 21,23].“! Zahn um Zahn!
sei unser Wahlspruch in dieser Sache. – An wenBlanche Zweifel, geborene Gaudard, eine Schwester von Minna von Greyerz’ Freundin Mary Gaudard; sie war seit 1882 verheiratet mit dem Lenzburger Kolonialwarenhändler Adolf Zweifel. es gerichtet ist, das mußt du selber erraten.
Vielleicht
giebt dir der Titel
Aufschluß. Die Veranlaßung war der
Tanzabend bei HünerwadelsÜber den Rahmen der Festivität am Abend des 25.11.1883 schrieb Frank Wedekinds Vater: „ein Ball für nur junge Leute, gemeinschaftlich von Fritz Hünerwadels und Wilhelm Schwarzes und im Hause der erstren, von welchem Bebi erst heute früh nach 3 Uhr heimkam.“ [Friedrich Wilhelm Wedekind an Armin Wedekind, 21., 26., 28.11.1883 (Familienarchiv Wedekind, Leichlingen)].
Ich bitte dich, zeig es niemandem, obschon ja durchaus nichts Schlimmes darin
steht und ich für jedes Wort mit Leib und Seele einstehen möchte. Doch könnte
es immerhin auf keinen Fall etwas nützen. Vielleicht daß mir das Schicksal ein
ander Mal günstiger ist und die Damen von Lenzburg nicht im Frauenverein versammelt hältDer Lenzburger Frauenverein traf sich am Donnerstag, den 29.11.1883 [vgl. Minna von Greyervan Wedekind, 2.12.1883]. – Sein Gründungsjahr ist unbekannt, eine kleine Mitteilung in der Presse bestätigt für das Jahr 1877 seine Existenz: „Aargau. Der Regierungsrath hat dem Frauenverein Lenzburg die Verloosung von Gaben zu Gunsten der Mädchenerziehungsanstalt Friedberg bewilligt.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 57, Nr. 485, 16.10.1877, Erstes Blatt, S. (2)] Als sich am 22.4.1889 in Aarau der SGF (Schweizerischer gemeinnütziger Frauenverein) gründete, wurde mit Gertrud Villiger-Keller eine Lenzburger Frauenrechtlerin zur Präsidentin gewählt. [vgl. Der Bund, Jg. 40, Nr. 175, 27.6.1889, S. (2); Heidi Neuenschwander: 101 Jahre Schweizerischer Gemeinnütziger Frauenverein – 100 Jahre Sektion Lenzburg. In: Lenzburger Neujahrsblätter Jg. 61, 1990, S. 52-59]., wenn ich
ausgehe, um Visiten zu machen. O, mein verwünschtes Pech!! –––––
Soll
ich dir noch mehr gestehen? – Nun warum denn nicht. – Es war besonders das |
unruhig leuchtende und doch so freundliche Feuer, es waren die wenigen Worte,
die mich einen überlegenen Verstand ahnen ließen, was mir solch tiefen Eindruck
machte. Wie willkommen war mir doch Mamas Gedanke, ich könnte sie besuchen und mich nach ihrem
Befinden erkundigen! Das lebhafte, vernünftige Gespräch einer Viertelstunde
hätte mich ja für ein halbes Jahr beseligt durch ewig frische Erinnerung. – Ich
weiß nun zwar recht wohl was du denkst beim Lesen dieser Worte. „Noch kein
halbes Jahr[“] sagst du zu dir selber, „ist es her, da war er in ganz gleicher
Weise begeistertWedekind spielt an auf seine Verliebtheit in Anny Barck, die im Sommer ihre Freundin Minna von Greyerz in Lenzburg besucht und die Wedekind dort kennengelernt hatte [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883]. und
schwärmte ebenso feurig und erging sich in Gedanken und Träumen. Noch hat er
nicht den ersten Brief abgesandt, da beginnt er schon wieder von neuem mit
solchen Reden um sich zu werfen.“
–––
Höre, wenn meine Gefühle anderer Natur wären, so möchtest du darin Recht haben.
Aber sie sind nicht das, wofür sie die Welt halten würde, wenn sie auch nur
eine Ahnung davon hätte. Deswegen spreche | ich sie auch so offenherzig aus und
hoffe, nicht misverstanden zu werden. –
–––––
Der Briefder Brief an Anny Barck, die in Freiburg im Breisgau lebte [vgl. Wedekind an Anny Barck, 28.11.1883]. nach Freiburg
ist vollendet u harrt seiner Absendung. Frl. Barck wird Gott danken wenn sie ihn durchgelesen hat. Es steht
nicht gerade viel Interessantes darin. Doch wird sich sichSchreibversehen (Wedekinds oder Sophie Hämmerli-Martis), statt: sich. das mit der Zeit schon fahndeSchreibversehen (Wedekinds oder Sophie Hämmerli-Martis), statt: finden.. Mein nächstes
Schreiben wird nunmehr nach GöttingenKorrespondenzen zwischen Frank Wedekind und seinem Bruder Armin sind erst ab Frühjahr 1884 überliefert.
gehen um unserem BoreasArmin Wedekinds Pseudonym im Freundschaftsbund „Fidelitas“ – in der griech. Mythologie die Personifikation des rauhen Nordwinds. von dem jetzigen
Stand der Dinge zu unterrichten, daß er dem BundeDer wohl am 14.10.1883 gegründete Freundschaftsbund „Fidelitas“, dem Minna von Greyerz, deren Freundinnen Mary Gaudard und Anny Barck sowie Frank und Armin Wedekind angehörten. nicht entfremdet wird, und um ihn, ein wenig
mit dem Holzschlegel winkend, an seine Versprechungen zu erinnern. Sorge daß
dieser Brief nicht in unrechte Hände kommt. –
Mit
besten Grüßen, auf Wiedersehn.
Dein Cephyrauch Zephyr; Wedekinds Pseudonym im Freundschaftsbund „Fidelitas“ – in der griech. Mythologie die Personifikation des milden Westwinds..
[Zeichnung: Regenbogen-Symbol]