Festung Königstein, 31.I.1900
Lieber alter Freund!
Ich muß Dir auch rasch noch eine Fountain pen(engl.) Füllfederhalter. voll schreiben. Zu Neujahr erhielt ich einen süßen Grußnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Siegmund von Hausegger an Wedekind, 31.12.1899. Der Korrespondenzpartner ist nicht sicher belegt; es könnte sich aber um den aus Graz stammenden jungen Komponisten und Dirigenten Siegmund von Hausegger gehandelt haben, der 1899 nach München berufen worden war, wo er als „Dirigent des Kaimorchesters“ [Adreßbuch von München für das Jahr 1900, Teil I, S. 210] tätig war; die Grazer Presse zeigte sich stolz über die Leistungen „des Grazers Siegmund v. Hausegger“ [Grazer Tagblatt, Jg. 9, Nr. 355, 23.12.1899, Morgen-Ausgabe, S. 9] in München. Er dirigierte am 29.12.1899 in München noch ein Konzert [vgl. Münchner Konzertnotizen. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 52, Nr. 595, 26.12.1899, S. 5] und dürfte dann zum Jahreswechsel in seine Heimatstadt Graz gereist und Wedekind von dort vermutlich eine Postkarte geschrieben haben. von einem Deiner Schüler aus Graz zugeschickt. Ich habe dem Herrn nach Graz hin dafür gedanktHinweis auf die nicht überlieferte Antwort (siehe oben); erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Siegmund von Hausegger, 1.1.1900., bekam aber die Zeilen als unbestellbar zurück. Ich werde ihm nun wol meinen Dank mündlich abstattenSiegmund von Hausegger wohnte in München (Glückstraße 13) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1900, Teil I, S. 210], wohin Wedekind bald nach seiner Entlassung aus der Festungshaft zu reisen vorhatte. können. Vorderhand bitte ich Dich, ihn bestens zu grüßen.
Nach München komme ich voraussichtlich in acht TagenDas wäre der 8.2.1900 gewesen. Wedekind, der am 3.2.1900 aus der Festungshaft entlassen wurde und von der Festung Königstein aus zunächst einige Tage im nahe gelegenen Dresden verbrachte, siedelte allerdings nicht von dort nach München über, sondern reiste zunächst noch nach Leipzig, wo er am 8.2.1900 abends eintraf und bis zum 14. oder 15.2.1900 blieb [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]., vielleicht den 10. oder so, und dann wahrscheinlich nur auf kurze Zeit, da ich Dr. Heine wieder auf einer Tournee begleitenWedekind hat Carl Heine auf dessen Gastspielreise mit seinem Ensemble nicht begleitet; er hat ihn aber auf einer Station dieser Tournee – in Leipzig – am 8.2.1900 und in den Tagen darauf getroffen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 11.2.1900]. werde. Selbstverständlich werde ich Dich benachrichtigen, auf jeden Fall wird mein erster Gang zu DirHans Richard Weinhöppel, verzeichnet als Kapellmeister und Gesangspädagoge, wohnte nach wie vor in München (Corneliusstraße 5) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1900, Teil I, S. 620]. sein. An Geld wird es mir nicht fehlen; ich habe im Gegentheil die glänzendsten PerspectivenWedekinds Tante Auguste Bansen, die jüngste Schwester seines Vaters, war am 15.12.1899 in Hannover kinderlos gestorben, so dass die Neffen und Nichten auf ein Erbe hofften [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 199f.].. Wohnen werde ich für die kurze Zeit wahrscheinlich im Bamberger HofWedekind logierte in München zunächst im Bamberger Hof [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 4.3.1900], einem Gasthof (Neuhauserstraße 26) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1900, Handels- und Gewerbe-Adreßbuch, S. 109], bevor er eine eigene Wohnung bezog.. Das einzige, was mich bedrückt, ist, daß meine ArbeitWedekind arbeitete an „Marquis von Keith“ (1901). noch nicht so weit gediehen, wie ich gewünscht hätte, sonst wäre ich jetzt vermuthlich in der goldensten Stimmung von der Welt.
Meine herzlichsten Empfehlungen an Miß E.wohl Überlieferungsfehler, statt: Miß B. – Wedekind hat Hans Richard Weinhöppels Freundin (und spätere Ehefrau), die Amerikanerin Stella Brokow, in früheren Briefen als „Miß B.“ [Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 2.11.1899 und 29.12.1899] bezeichnet., deren Bild, das sie so freundlich war mir zu schenken, die schönste Zierde meiner Gefangenenstube ist.
Wie gesagt weiß ich nicht, ob ich vor meiner Ankunft in München nicht noch einige Tage mit Dr. Heine verbringe. Die Nachrichtnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 30.1.1900. Das verschollene Schreiben enthielt eine Nachricht über Lotte Dreßler (siehe unten). von C. D.wohl Nachrichten von Lotte (Charlotte) Dreßler, Wedekinds mit seinem Freund Anton Dreßler verheiratete Freundin in München, mit der er Ende 1896 eine Liebesbeziehung begonnen hatte. Wedekind hatte schon früher durch Vermittlung Hans Richard Weinhöppels mit ihr korrespondiert [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 1.4.1897]. Fritz Strich schrieb dazu: „Eine Frau, zu der Wedekind sehr nahe Beziehungen hatte. Die Nachricht war, dass sie sich von ihrem Manne scheiden lassen wolle und Wedekind immer noch herzlich liebe.“ [GB 2, S. 358] ist mir ein wahres Labsal. Seit acht Monatenseit dem Beginn der Haft, nachdem Wedekind sich am 2.6.1899 in Leipzig den Behörden gestellt hatte und wegen Majestätsbeleidigung zunächst im Gefängnis in Leipzig einsaß, dann auf der Festung Königstein. schwelge ich in Gedanken bei ihr.
Lieber Freund, ich habe nicht viel mehr zu schreiben, als daß ich mich herzlich auf unser Wiedersehen freue. Ich werde auch nicht mehr so zerstreut sein, wie während meines letzten Aufenthaltes. Ich werde sehr lieb sein, Dich nicht kränken und das Leben von der behaglichsten Seite nehmen.
Mit herzlichen Grüßen Dein
Frank.