Lenzburg
Sonntag Nachmittag
2/3/. Febr. 1884.
Lieber Babyin der Familie gebräuchlicher Kosename Wedekinds.!
Nur auf indirekten Wegen hörte ich von Deinem ErfolgNachdem Wedekind zu Beginn des Kantonsschülerfests am 1.2.1884 (Beginn 19.30 Uhr) seinen „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonsschüler“ mit großem Beifall vorgetragen hatte [vgl. KSA 1/II, S. 1983ff.], stand er zu vorgerückter Stunde noch einmal in dem Schwank „Nette Mieter“ von C. Braun als Schuhmacher und Vizewirt Lamprecht auf der Bühne; neben ihm der Klassenkamerad Hans Fleiner in der Rolle des Schauspielers Schnabel [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 30, 1884, Nr. 26, 31.1.1884, S. (4)]. Über die Veranstaltung schrieb die Kantonsschule: „Das Programm, aus einem Prolog, mehreren Vocal- und Orchesternummern, Declamationen und dramatischen Darstellungen bestehend, hatte eine unerwartet große Zahl Zuhörer angezogen; die Leistungen der Schüler haben, Dank den eifrigen Bemühungen einiger unsrer Collegen die Erwartungen des Publikums durchaus befriedigt. [...] Da dieser Versuch durchaus günstig ausgefallen ist, und da nun ein sehr schönes und geräumiges Lokal zur Verfügung steht (woran es bisher mangelte), so hoffen wir den Schülern jeden Winter einen oder zwei solcher Abende bieten zu können.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, S. 9; vgl. auch KSA 1/II, S. 1983ff.] am Aarauer-Kantonsschülerfest u
freute ich mich herzlich darüber. Ich hoffe, daß Du von all’ den Anerkennungsbezeugungen nicht so
verwöhnt seist, um nicht noch gerne den treuen Glückwunsch Deiner Cousine anzuhören. Dieser
Glückwunsch fällt heute allerdings ein wenig sonderbar aus,:
schriftlich, da ich’s doch mündlich thun könnte, dazwischen eine bittre Mandel
in Poesie eingestreut, statt in härtester Prosa Dir das vorzuwerfen, was Dir
vielleicht sonst Niemand sagt, weil sie es für überflüssig halten, oder gar
nicht daran denken, oder Dich nicht aus Deiner rosigen Stimmung bringen wollen.
Sei dem nun wie es wolle, so bitte ich Dich inständig mich nicht mißverstehen
zu wollen. Nein Du thust’s auch nicht, sagtest | Du doch neulich zu mir, daß Du
schon die Ueberwindung des Andern zu schätzen wißest, wenn er im guten Glauben D/s/einen Mitmenschen
etwas Unangenehmes sage. So – die Einleitung, Vorbereitung wäre gemacht u meine
Freude über den Beifall Deines Prolog’s habe ich damals schon mündlich ausgesprochen, jetzt
kommt die bittre
Mandel, bitter in Form u Inhalt, wünsch guten Humor u richtige
Verdauung!
„Verrauscht sind nun des Festes heitre Klänge,
Verrauscht der Beifall, der die Brust Dir schwellte,
Der Deines Auh/g/es Strahl glanzvoll erhellte
Als freudig Dir entgegen jauchzt’ die Menge.
Erinn’rung hält den Rausch noch in die Länge,
Doch Alles wird berührt von Todeskälte
Und während Du Dich freutest, ach so fällte
Ein Andrer schon sein Urtheil im Gedränge.
Kein schlimmes Urtheil! Doch es wird gefallen,
Mein lieber Freund, Dir nicht, doch kann es nützen,
Drum sag ich’s Dir allein: Du mögest wallen |
Als Dichter Deine Bahn, Dich freu’n, nie stützen
Auf bloßen Beifall nur, sonst wirst Du fallen
In Eitelkeit und Schmeicheleien-Pfützen!“
Packe die Menschen nur an ihrer Eigenliebe, schmeichle
ihnen oder mache sie lächerlich, so sind sie entweder Deine sogenannten Freunde oder dann Deine Feinde. Du
siehst aber, daß ich d/D/ich weder auf die eine noch andere Weise
behandelt habe, sondern daß ich eine recht ernsthafte Freundin geworden bin.
Sollte es Dir etwa unangenehm sein? Dann bitte, erkläre Dich mir unverholenSchreibversehen, statt: unverhohlen., u wenn Du mir
schreiben willst, so thu es nur ungenirt.
Mein lieber Bundesbruderim Freundschaftsbund „Fidelitas“ der Bundesbruder Zephyr, die Personifikation des milden Westwinds., sei
gegrüßt von Deiner Windschwesterim Freundschaftsbund „Fidelitas“ die Sturmwind genannte Bundesschwester.!