Hochverehrter Meister!
Sehr geehrter Herr Brandes!
ich glaube, daß die Ehre, die Sie mir zugedacht habenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Georg Brandes an Wedekind, 1.4.1908. Georg Brandes dürfte auf die Büchersendung regiert haben, die Wedekind ihm hat zukommen lassen [vgl. Wedekind an Georg Brandes, 30.3.1908], und ihm angekündigt haben, in Berlin über Wedekind Werk einen Vortrag zu halten (siehe unten). Wedekind fand diese Ankündigung wohl vor, als er am 4.4.1908 abends von Leipzig zurück nach Berlin kam [vgl. Tb]., zu
groß für mich ist. Ich sage daß/s/ vom rein praktischen Standpunkt aus.
Ich glaube, Sie würden sehr viel Widerspruch finden und die Thatsache allein,
daß Sie in Berlin über mich sprechen,Der Vortrag von Georg Brandes über Wedekind sollte am 25.4.1908 in der Berliner Philharmonie stattfinden, wie die Presse ankündigte: „Professor Georg Brandes aus Kopenhagen hält am 25. April in der Philharmonie einen Vortrag über Frank Wedekind“ [Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 197, 16.4.1908, Abend-Ausgabe, S. (3)], veranstaltet von der Zeitschrift „Morgen“ (Berlin), deren Mitherausgeber Georg Brandes war (Schriftleiter: Artur Landsberger): „NÄCHSTER VORTRAG DER WOCHENSCHRIFT ‚MORGEN‘ / SONNABEND, den 25. April ‒ abends 8 ‒ Oberlicht-Saal der Philharmonie / Georg Brandes über Frank Wedekind“ [Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 198, 17.4.1908, Morgen-Ausgabe, 3. Beiblatt, S. (3)]. Der Vortrag fand wie angekündigt statt: „Heute abend 8 Uhr spricht im Oberlichtsaal der Philharmonie Georg Brandes über Frank Wedekind“ [Berliner Tageblatt, Jg. 37, Nr. 209, 25.4.1908, Morgen-Ausgabe, S. (3)]. würde mir sehr viel Neider schaffen. Nun
kommt aber noch | etwas dazu. Ich verreise in acht TagenWedekind reiste am 13.4.1908 von Berlin ab: „Abfahrt von Berlin nach München.“ [Tb] nach München und bin
vom 23 anFrank und Tilly Wedekinds Gastspiel am Theater am Franzensplatz in Graz begann am 23.4.1908 (bis zum 25.4.1908); sie reisten dazu dem Tagebuch zufolge am 21.4.1908 von München ab („Abreise nach Graz“), wo sie am 22.4.1908 eintrafen („Ankunft in Graz“). Frank Wedekind reiste am 26.4.1908 allein weiter nach Wien („Vier Uhr fahr ich nach Wien“) zu seinem Gastspiel vom 9. bis 22.5.1908 in „Frühlings Erwachen“ am Wiener Deutschen Volkstheater. in Graz und Wien verpflichtet. Meinem Empfinden nach würde es aber,
da man weiß daß ich in Berlin wohne, häßlich aussehen, wenn ich bei Ihren
Worten nicht anwesendWedekind war seiner Gastspielreise wegen (siehe oben) am 25.4.1908 zum Vortrag von Georg Brandes (siehe oben) nicht in Berlin. wäre. Es betr erübrigt jetzt noch, Ihnen,
verehrter Herr, meinen aufrichtigen und herzlichen Dank für die
außerordentliche Ehre auszusprechen, die Sie mir zugedacht haben. Wegen des
Ibsen-AufsatzesWedekinds Aufsatz über Henrik Ibsen war zuletzt in der „Fackel“ abgedruckt [vgl. Frank Wedekind: Schriftsteller Ibsen und „Baumeister Solneß“. Ein kritischer Essay. In: Die Fackel, Jg. 8, Nr. 205, 11.6.1906, S. 5-20]. habe ich meine | sämmtlichen Fackelnummern durchsucht, kann
aber kein Exemplar mehr finden. Von Wien ausWedekind traf am 26.4.1908 in Wien ein und blieb bis zum 23.5.1908 in der Stadt [vgl. Tb]. Treffen mit Karl Kraus sind in dieser Zeit nicht belegt. werde ich mir erlauben Ihnen ein
Exemplar zu senden. Ich mag mich von hier aus nicht an den Herausgeber
Karl Kraus nicht wenden, da ich mit diesem KlefferErich Mühsam hatte die Abrechnung von Karl Kraus mit Maximilian Harden (siehe unten) als „Denunziationsgekläff“ [Erich Mühsam: Karl Kraus. Die Erledigung eines Nachrufs. In: Morgen, Jg. 2, Nr. 8, 21.2.1908, S. 243] bezeichnet. seit der Hardenaffaireseit dem Herbst 1907, als Karl Kraus seine erste großangelegte Polemik gegen den Berliner Publizisten veröffentlicht hatte [vgl. Maximilian Harden. Eine Erledigung. In: Die Fackel, Jg. 9, Nr. 234/235, 31.10.1907, S. 1-36]. nichts
zu thun haben möchte. Nun erweisen Sie mir die Ehre, mich aufzufordern, ich
möchte Ihnen etwas über mich schreiben. Ich thue das sehr gern, nicht in der
Voraussicht, daß Sie über mich sprechen, sondern weil ich von einem Manne, den
ich so verehre | wie Sie, nicht gerne mißverstanden werden möchte. Sie
schrieben mir einmalvgl. Georg Brandes an Wedekind, 3.11.1904., daß Ihnen mein ,,Frühlings Erwachen“ nicht gefiele. Ich
glaube dies Mißfallen lag daran, daß Sie es bei der ersten Lektüre zu ernst
auffassten und den Humor übersahen, den ich mit vollem Bewußtsein in jede Scene
hineinzulegen suchte. Ich machte die gleiche Erfahrung mit WidmanSchreibversehen, statt: Widmann. in Bern, der
das Buch bei seinem Erscheinen vor zwanzig JahrenJoseph Victor Widmann, seinerzeit Chefredakteur des zur Berner Tageszeitung „Der Bund“ gehörenden „Sonntagsblatt des Bund“, in dem er am 22.11.1891 die Erstausgabe von „Frühlings Erwachen“ (1891) besprochen hat [vgl. KSA 2, S. 861f.]. Er bemerkte zur Handlung, dass sie „zu einer tragischen Katastrophe führt“, und in der Gesamteinschätzung, das Stück sei „ein aus innerer Notwendigkeit heraus gewordenes Lebens- und Sittenbild, […] eine Dichtung, die der Verfasser sich von der Seele schreiben mußte wie Goethe seinen ‚Werther‘.“ [Sonntagsblatt des Bund, Nr. 47, 22.11.1891, S. 375-376] In seiner Rezension des Bands „Die Fürstin Russalka“ (1897) erklärte er generell zu Wedekinds „phantastischen Theaterspielereien“, diese seien „eigentlich nur Scenarien zu satirischen Komödien, […] so willkürlich, daß sie schwerlich jemand zu Ende lesen wird.“ [Sonntagsblatt des Bund, Nr. Nr. 27, 4.7.1897, S. 215] als entsetzlich ernst
hinstellte, während er heuteJoseph Victor Widmanns neuere Stellungname zu „Frühlings Erwachen“ ist nicht ermittelt. davon als von einer Tragikomödie spricht. Nun habe
ich nur noch folgendes zu sagen: | Als Tragikomödien habe ich meine sämmtlichen
Sachen gedacht, so wie mir auch Richard III (ohne mich im geringsten
vergleichen zu wollen) als Tragikomödie erscheint. Ich habe diese Bezeichnung
natürlich bei keiner meiner Arbeiten gewählt, weil ich das für den Gipfel der
Humorlosigkeit halten würde.
Das ist alles, verehrter Herr Brandes, was ich Ihnen über
mich zu sagen weiß. Wollen Sie bitte Ihrer verehrten Frau Gemahlin Johanne Louise Henriette Brandes (geb. Steinhoff), genannt Gerda, geschiedene Frau von Adolf Strodtmann (der deutsche Übersetzer von Georg Brandes), seit dem 29.7.1876 mit Georg Brandes verheiratet.meine
ergebenste Empfehlung aussprechen.
Meine Frau läßt sich gleichfalls | empfehlen. Ich aber danke
Ihnen, daß ich die Freude hatte, Sie kennen zu lernenWedekind hat Georg Brandes am 14.3.1907 in Berlin persönlich kennengelernt: „Dr. Landsberger giebt ein Diner mit Georg Brandes dessen Tochter Frau Philipp Herrn Philipp, Harden, Tilly und mir im Palasthotel.“ [Tb] Eine weitere Begegnung gab es am 1.3.1908 (hier war außer Edith Philipp, der Tochter von Georg Brandes, nun auch dessen Gattin Gerda Brandes dabei): „Dr. Landberger giebt ein Diner bei Adlon. Anw. Brandes Frau Tochter Carl Hauptmann Gerharts zweiter Sohn“ [Tb]..
Mit ergebensten Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
6.4.8.