Sehr geehrter Herr Doctor!
als ich gestern Ihre liebenswürdigen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Walther Rathenau an Wedekind, 17.11.1904. erhielt, hatte
ich mich schon mehrere Tage intensiv mit Ihrer Arbeit beschäftigtmit Walther Rathenaus unter Pseudonym in der „Zukunft“ veröffentlichtem Aufsatz [vgl. Ernst Reinhart: Von Schwachheit, Furcht und Zweck. Ein Beitrag zur Erkenntnis menschlichen Wesens. In: Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 223-239], den der Verfasser Wedekind zugesandt hatte [vgl. Walther Rathenau an Wedekind, 12.11.1904]. „Unter dem Einfluß von Schopenhauer und Chamberlain erweiterte Rathenau darin die [...] auf Nietzsches Herren- und Slavenmoral zurückgehende Polarität des starken Mut- und des schwachen Furchtmenschen durch die Einbeziehung des Zweckbegriffs zu dem [...] Kontrast des ästhetischen und ethischen Menschen, der auch bei ihm zugleich als der Rassengegensatz von Ariern und Nicht-Ariern zu verstehen ist, und verknüpfte sie mit Gobineaus Geschichtstheorie“ [Hellige 1983, S. 385]. und schon
mehrfach daran gedacht, Ihnen über den Eindruck, den sie bei mir hervorgerufen,
zu schreiben.
Bei Ihrer Analyse des Zweck- oder FurchtmenschenDer vierte Abschnitt des Aufsatzes (siehe oben) – „Physiologie des Zweckmenschen“ – bildet den Hauptteil, in dem Walther Rathenau die „zweckorientiert“ handelnden „Furchtmenschen“ charakterisiert [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 224-230]. schlug ich
mich mehrfach schuldbewußt vor die Brust. Das werden Sie selber wol aber |
auch gethan haben. Sie hätten diesen Menschen sonst wol kaum mit so viel Liebe
behandelt. Die herbe rücksichtslose Kritik, die Sie dabei an diesen Menschen
anlegen, führt meiner Ansicht nach in die tiefsten Tiefen der Psychologie und
wenn Sie dem Menschen mit dieser Kritik vielfach Unrecht thun, so verleiht das
der Schilderung meinem Gefühl nach einen hohen Grad von Schönheit. Sie werden
auf diesen Theil der Arbeit wol auch am stolzesten sein. Jetzt, wo ich den Text
wieder vor Augen habe, treten mir Tiefe und Feinheit so massenhaft entge|gen,
daß ich Ihnen unmöglich über alles schreiben kann. Aber wozu auch? Es ist ja
geschrieben. Ich lese eben wieder den Abschnitt „Menschensucht“„Menschensucht“ bildet einen der „Striche“ im Abschnitt „Physiologie des Zweckmenschen“ (siehe oben), die das entworfene „Bild“ des Zweckmenschen „ergänzen“; der Abschnitt beginnt: „Einsamkeit nährt die Furcht. Deshalb flüchtet er unter Menschen, zumal Seinesgleichen, die ihm zu Allerlei dienen.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 227]. Es liegt mir
ganz fern Ihnen Schmeicheleien sagen zu wollen. Sie werden mir das auch aufs
Wort glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich in dem Aufsatz, obschon er ja
keineswegs ganz leicht zu lesen ist, sofort vom ersten bis zum letzten Wort
heimisch fühlte, obgleich ich gar nicht überall Ihrer Ansicht bin. Aber
Ansichten sind ja ganz gleichgültig; es kommt darauf an, was für positive
Wahrheiten dabei ans Licht treten. Zum Beispiel vermisse | ich in Ihrer
Gegenüberstellung von Zweck- und Furchtmenschen einerseits und Starken
anderseits einen würdigen Platz für die Dummheit. Wenn ich Ihrem System Recht
gebe, dann muß ich Sie notwendig bei den StarkenDer siebte Abschnitt („Historie“) beginnt: „Alle Geschichte ist ein Kampf der Klugen gegen die Starken.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 236] Walther Rathenau hat im zweiten Abschnitt („Zweck und Verstand“) seines Aufsatzes (siehe oben) „Schwachheit, Furcht, Zweck, Verstand“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 224] als zusammengehörig aufgelistet. suchen. Aber s Sie
haben sie aus Großmut übersehen. Und dann frage ich mich weiter: Sollten die
„Starken“ nicht bei Ihnen ein Idealbild sein, ähnlich wie der Begriff „Gott“findet sich in Walther Rathenaus Aufsatz (siehe oben) in den Ausführungen zur Kunst [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 232, 236].?
Ich frage mich: Haben Napoleon und Bismark nicht Augenblicke die Menge h gehabt, wo alles auf sie zutraf was Sie
von den Zweck- und Furchtmenschen sagen? Hat Friedrich der Große den ersten
Schlesischen KriegNach dem Tod des deutschen Kaisers Karl VI. (20.10.1740) erhob Friedrich II. von Preußen Anspruch auf die österreichische Provinz Schlesien; am 16.12.1740 begann der Erste Schlesische Krieg, er endete am 28.7.1742 mit dem Frieden von Berlin, in dem Österreich fast das gesamte schlesische Territorium an Preußen abtreten musste. nicht vielleicht nur deshalb be- vom Zaun gebrochen, weil er | ein unglücklicher Mensch
war? Ich will damit übrigens keineswegs an Ihrem System rütteln. Dazu ist es
mir viel zu schön, viel zu werthvoll. Wer weiß, ob ohne die Vergötterung, die
Sie für die „Starken“ empfinden, und die ich gerne mitmache, jemals irgend
etwas zustande gekommen wäre.
Die Phisiognomik pag 231Walther Rathenaus Aufsatz (siehe oben) sind im fünften Abschnitt („Das Kainszeichen“) „selbstgezeichnete Profilskizzen beigefügt“ [Hellige 1983, S. 387], die im Druck eine ganze Seite einnehmen [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 231] und zum Ausschneiden drei griechische Profile (die Büste des Menelaos im Vatikan, den Apollo von Belvedere und den Apoll von Olympia) in doppelter Ausführung gegenüberstellen; durch punktierte Linien (in die Profile der zweiten Reihe eingezeichnet) sind Unterschiede in der Physiognomie ihrer Nasen dargestellt, um „Furcht- und Zweckmenschen“ von „Furcht- und Zweckfreien“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 232] zu unterscheiden. finde ich sehr fein
und gleichfalls sehr zweckmäßig. Natürlich möchte ich lieber Kinder aus der
ersten Reihe als aus der zweiten haben. Im Stillen frage ich mich d aber
doch, ob diese Kinder dann überhaupt noch Zeit zu ähnlichen Gedanken, |
überhaupt zu Gedanken finden werden. Aber glücklicher werden sie ja höchst
wahrscheinlich sein. Sie vindizierendie Herausgabe einer Sache vom Eigentümer gegenüber dem Besitzer einer Sache verlangen (in der Rechtswissenschaft). das ganze große Gebiet der KunstWedekind bezieht sich hier auf den sechsten Abschnitt von Walther Rathenaus Aufsatz (siehe oben): „Entstehung der Kunst“ [vgl. Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 233-236]. für die
Furchtmenschen. Aber welcher große Schritt ist vom Künstler zum Feldherrn oder
Staatsmann. Trotzdem ist mir wie gesagt Ihre Theorie sehr lieb, ich möchte
sagen, ans Herz gewachsen. Wenn die Klugen die Starken nicht beneideten, dann
wären sie ihres Namens nicht würdig. „Zwar hab’ ich vielals angebliches Zitat in Anführungszeichen gesetzt witzige Variante zu Wagners Wunsch nach Wissen in Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“ (zugleich geflügeltes Wort): „Zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen.“ [V. 601], doch möcht ich alles
haben.“
Und nun, nach allem was mir lieb und schön und tief an Ihrem/r/
Arbeit ist, r/e/rlauben Sie mir | auf die für mich praktisch wertvolle
Seite zu kommen. Das sind die Auseinandersetzungen auf Seite 237Wedekind bezieht sich hier auf eine Passage im siebten Abschnitt („Historie“) von Walther Rathenaus Aufsatz (siehe oben), deren Auftakt lautet: „Heutzutage ist die Welt der Abenteuer und Gefahren, der Kämpfe und Eroberungen, der Tapferkeiten und Herrschgewalten in nichts zerronnen. [...] Daher ist diese Zeit das Goldene Zeitalter der Zweckmenschen.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 237] Die Passage schließt: „Vor allem regt sich halb unbewußte Erkenntniß in der Seele stark gearteter Völkerschaften. [...] Aber dieser trübe Instinkt wird allgemach zu heller Einsicht aufleuchten und manch nächtlichen Eroberungszug der Schwachen mit keckem Lichtblitz aufstören.“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 238]. „Heutzutage
ist die Welt“ bis „mit kecken Lichtblitz aufstören“. Das scheint mir der
Punkt, wo eine neue dramatische KunstWedekind notierte in seinen 1912, 1913 und 1916 entstandenen „Niggerjud“-Entwürfen über diese Figur: „Er ist die Vereinigung von Rathenaus Zweck- und Furchtmensch mit dem Zweckherren {Mitmenschen}.“ [KSA 7/I, S. 600] einzusetzen hat, denn das sind doch wol
die Faktoren, die für die alten Griechen und für Shakespeare die Könige waren.
Über diese Geheimnisse habe ich viel nachgedacht, natürlich ohne Kenntnisse und
Überblick zu haben. Für jedes Wort, was Sie mir hierüber zur Orientierung sagen
wollen, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Die Fragen liegen mir auf der Zunge. Ich
brauche nicht hinzuzufügen | daß es mir dabei um Weltanschauung, nicht um
Geheimnisse zu thun wäre. Deshalb danke ich Ihnen für Ihre liebenswürdige
Aufforderung, Sie wieder zu besuchen. Darüber zu korrespondieren hat für uns
Beide wol wenig Sinn. Aber meine Bemerkung ermuntert Sie vielleicht zu einem
neuen Aufsatz für die Zukunft, der auf diesem Gebiet grundlegend werden könnte.
Ihre Bemerkung über den Dramatiker hatte ich offen und
ehrlich auf Hauptmann bezogenauf Gerhart Hauptmann. Walther Rathenau hatte dagegen Wedekind im Blick, wie er ihm ausdrücklich schrieb [vgl. Walther Rathenau an Wedekind, 12.11.1904]. wegen des Ausdrucks „Unabhängig von aller EthikZitat aus Walther Rathenaus Aufsatz (siehe oben), der den genialen modernen Dramatiker als „unabhängig von aller Ethik“ [Die Zukunft, Jg. 13, Nr. 7, 12.11.1904, S. 236] charakterisiert.“.
Es erübrigt mir, Ihnen für die schönen Worte, noch mehr für all die
Herzlichkeit, die Sie mir entgegenbringen, aufrichtig zu danken.
Mit ergebensten Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
München 19. Novem. 1904Wedekind notierte am 19.11.1904: „Brief an Rathenau.“ [Tb].
[am linken Rand:]
Franz Josefstraße 42.