Zürich,
3. März 1882.
Lieber Freund!
habe Deinen
Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Moriz Sutermeister, 1.3.1882. gestern erhalten u. will jetzt mit Dir zweierlei besprechen 1.)
die Helvetia
philosophicaÜber den Bund konnte über die Briefe Moriz Sutermeisters hinaus nichts ermittelt werden. 2.) den Zustand der Aarauer Vereinedie drei Schülerverbindungen KTV (Kantonsschülerturnverein) Aarau, Industria Aarau, für die Wedekind kurze Zeit später die Vollmitgliedschaft beantragte [vgl. Wedekind an die Industria, 12.3.1881], und die Argovia Aarau. u. speziell Deinen Wunsch puncto Wullschleger
u. Industria.
Was den letztern Punkt anbelangt, so sage ich Dir nur, daß ich privatim mich nicht erkühnen werde Wullschleger
vorschreiben zu wollen, in welchen Verein er eintreten oder nichteintreten
soll. Ich werde ihm, falls er u meinen Rath nachsuchen sollte, nur
anrathen in,
er hierin ganz unabhängig nach seiner eigenen |
Ueberzeugung nach bestem Wissen u. Gewissen zu handeln. Freilich Es ist
überhaupt nicht meine Art den Ketzerrichter zu machen. Freilich wenn ich nur
die Prinzipien u. das Wesen der 3 Aarrauer Vereine ins Auge
fasse u. bedenke, daß es Schülervereine sind, so fühle ich mich,
(wie übrigens auch Dein Bruder Armin) veranlaßt dem Turnverein, solange die
körperl. Anliegen das Turnen in demselben die Hauptrolle
spielt, unbedingt den Vorzug zu geben. Denn das Turnen thut den
Kantonsschülern, die bekanntlich in hohem Grade mit Schulaufgaben
überhäuft sind, gewiß sehr gut, es erhält zudem den Geist lebendig u. frisch;
während in Schülervereinen mit | wissenschaftlichen TendenzenDie Industria Aarau war aus einem naturwissenschaftlichen Kränzchen entstanden. oft
ein kleinlicher Geist sich einschleicht: die Ueberhebung, Wichtigthuerei u.
Nachäfferei greift um sich. – Wie gesagt: ich privatim werde Wullschlegers Entscheid nicht beeinflussen. Eine andere
Frage ist aber die, wie sich in dieser Angelegenheit unser Bund Wullschleger gegenüber verhalten werde. Unser Bund, die Helv. phil., verlangt nämlich von seinen Mitgliedern, daß
sie der Helv. phil. schon wegen ihres Grundprinzips vor
andern Vereinen den Vorzug geben. Nun theilte mir W., der schon zu Neujahr bei seinem
Aufenthalt in Zürich
mit mir diese Frage besprach, mit, daß unser Mitglied H. Rüetschi in
den Turnverein eingetreten sei, daß aber er (W.) noch nicht
| wisse, nach welcher der 3 Seiten (Turnv. Argovia, Industria) er sich entschließen entscheiden wollen, ob er überhaupt in einen der 3 Vereine
eintreten wolleWedekinds Klassenkamerad Otto Wullschleger wurde wurde – erst nach Wedekinds Entlassung (4.11.1882) – Mitglied der Industria Aarau (11.11.1882) [vgl. Wedekind an die Industria Aarau, 30.10.1882; vgl. auch Chaudhuri 2009, S. 107 u.a.].. Unser Bund will nun nicht, daß seine Mitglieder einander
entfremdet werden, vielmehr soll das Freundschaftsband, das sie umschlingt,
immer enger werden. Es
tritt daher die Frage an unsern Bund heran, ob er es gestatten dürfe, daß Helvetianer die Aar Schüler der aarg. Ktsschule sind, verschiedenen von den Aarauer
Vereinen angehören dürfen oder nicht. Unter Umständen kommt es ja vor, daß sich
die Aarauer Vereine ja geradezu feindlich gegenüberstehen.
Wird nun obige Frage vom Bunde verneint, so fragt es sich, ob eventuell
Wullschl. deswegen nicht in einem/n/
andern Verein als d. Turnver. eintreten dürfe, weil Rüetschi
| dem Turnverein angehört, oder ob nicht vielmehr event.
Rüetschi wieder aus dem Turnvereine austreten müsse. Du siehst die
Lösung dieser Fragen ist nicht sehr leicht. Gelöst sollen sie aber in
nächster Zeit werden: ich werde jetzt schon die erforderlichen Maßregeln
ergreifen, daß die Mitglieder unserer Aarauer Sektion nicht später aus den
Vereinen, in die sie etwa eingetreten sind, wieder austreten müssen. Denn wie
gesagt unser Bund geht Euern Schülervereinen vor gemäß seinem
Grundprinzip!
Ich gehe nun zu dem andern Punkte, den ich mit Dir
besprechen will, über, nämlich zur Helv phil, resp. Deinen Rechten als
„Amicus(lat.) Freund.“.
Die Rechte der „Amici(lat.) Freunde.“
werden, was ich Dir | zwar, glaube ich, schon früher bemerkte, in jedem
besondern Falle besonders bestimmt. Dir nun räumen wir einstweilen das
Recht ein bei einem unserer Aarauer B.-Brüder unserere
Bundeszeitung, den „Philosophus
Helveticusnicht ermittelt.“ lesen zu d (nicht aber die
offizielle „N. H.“) lesen zu dü u. drein inseriren
zu dürfen. Freilich kann Dein Insertionsrecht jederzeit mehr oder
weniger beschränkt werden, je nachdem der Raum unserer Zeitung mehr oder
weniger durch die Inserate der Helvetianer in Anspruch
genommen wird.
Im April nächsthin feiern wir zu Zofingen unser
erstes Bundesfest; unter Umständen u. vielleicht unter gewissen Bedingungen
werden wir Dich zu demselben einladen: | ich sage unter Umständen, denn Du mußt
bedenken, daß unser Bundesvermögen nicht groß ist u. daß namentlich gegenwärtig jetzt tiefe Ebbe in unserer B.-Kasse
eingetreten ist. – Natürlich werden wir Dich Dir noch genauere Anzeige
machen. – Es würde mich sehr interessiren, warum Du so für Zirkel der Schülerverbindung Industria!Der Zirkel ist das Erkennungszeichen einer Verbindung und besteht aus den „zu einem Zeichen zusammengezogenen Anfangsbuchstaben des Namens und oft auch des Wahlspruchs“ [vgl. Brockhausʼ Konversations-Lexikon. 14. Aufl. Leipzig 1903, Bd. 16, S. 994]. Der Zirkel der Industria enthält die Buchstaben und Zeichen für Industria (lat. Fleiß), Ehre, Freiheit, Vaterland. Das Ausrufezeichen steht vermutlich für: vivat! (lat.) es lebe!.
eingenommen bist (– ich habe gehört Du hegest großartige ReformpläneWedekind wurde noch im Frühjahr 1882 Vollmitglied in der Industria und übernahm bald diverse Vorstandsposten [vgl. Wedekinds Korrespondenz mit der Industria Aarau]. in Deinem
Kopfe!) u. in welcher Hinsicht sich denn die Aarauer Vereine verändert haben.
Ich werde sehr erfreut sein, wenn Du mir hierüber recht bald
Mittheilung machst. Da mir gerade nichts mehr einfällt, so schließe
ich in der Hoffnung auf recht baldige Nachricht.
Herzl Gruß von Deinem Freunde:
ci-devant
Hegel(frz.) einstmals Hegel. Hegel war der Biername, den Moriz Sutermeister während seiner Schülerzeit in der Kantonsschule Aarau trug..
Grüße mir meine Aarauer Confratres(lat.) Aarauer Mitbrüder. Gemeint waren Johann Otto Wullschleger und Hermann Rüetschi, die Aarauer Mitglieder oder Mitbrüder von Moriz Sutermeister in der Helvetia Philosophica.!