Aarau 22 Mai 81.
Lieber Freund!
Ich hatte mir zuerst in den Kopf gesetzt dich ein
wenig zu strafen für dein langes mir unerklärlich gewesenes StillschweigenOffenbar hatte sich Wedekind, der nach Ostern nicht in die dritte Klasse der Kantonsschule Aarau versetzt worden war, weder in den Schulferien (14.4.1881 bis 30.4.1881) noch danach bei den Schulfreunden gemeldet. Carl Schmidt beschwerte sich schon Anfang Mai darüber, dass er und Schibler von Dritten die Zukunftspläne ihres Freundes Wedekind erfahren mußten [vgl. Carl Schmidt an Wedekind, 6.5.1881]. & zwar
durch ebendasselbe Experiment; aber ich konnte es nicht übers Herz bringenSchibler antwortete nur wenige Tage nach Erhalt des Briefes [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 18.5.1881]. mich mit dir altes Haus
wider ein wenig zu unterhalten. Doch warum diese lange Vorrede.
Preise die Götter & alle Heiligen, dass du von Aarau fort bist denn ein
solches Hundeleben hab ich seit meinem gewiss einmal stattgefundenen
Geburtstag noch nicht gführt. Man hat den ganzen Tag zu ochsen im reinsten Sinne des Wortes. Und
besonders ich in einzelnen Fächern wie Mathematik & Französisch. Dies mög
der Teufel holen! |
Ich beneide dich wahrlich in deinem Schäferidylischen LLeben. Dolce far niente!(ital.) Das süße Nichtstun! Doch immer
den Kopf oben alter Bursch nicht versumpfen in diesem nichts sagenden geistunterjochenden
Schulbeben. Man lacht! Es verdient nicht, dass man sich ärgert.
Wegen der kurzen Spanne Zeit, welche man sich durchzuschlagen hat lässt man d/s/ich
gewiss keine grauen Haare wachsen besonders wenn man noch jung ist.
Wie gesagt sei froh, dass du aus diesem Staub & Moder fort bist. Die Chemie mo/a/cht
einen fast verrückt. Da schanzt man die Formel ein & m/w/as
für ein Gewinn schaut heraus? Zeitverlust den man angenehm verbummeln könnte in
die tiefsten Tiefen der wollüstigen Melancholie versenkt. |
Doch ich will dich auch mit meinen neusten poetischen
Ergüssen bekannt machen. recensire
scharf & bald:Die Aufforderung dürfte der Idee des von Walter Laué und Wedekind gegründeten Dichterbundes senatus poeticus geschuldet gewesen sein, dem Oskar Schibler im Februar beigetreten war [vgl. Wedekind an Walter Laué, 11. und 28.2.1881].
Felix, qui poterit mundum contemnere!(lat.) Glücklich ist in der Welt, wer sie verachten kann!
1. Es kämpfen in meinem Herzen
Der bösen Geister viel
Sie bringen Freuden & Schmerzen
Sie alle kommen ans Ziel!
2. Im Innern die Leidenschaft wühlet;
Ein Drang ich kenn’ ihn nicht
Mein sehnendes Herz es fühlet
Es ist der Drang nach Licht!
3. Dies unnennbare Sehnen
Das all mein Sein erfüllt?!
Es ist ein menschlich Waehnen
von tiefer Nacht umhüllt.
4 Eine Seele hab ich gefunden
in meiner dunklen Nacht
Mit ihr hab ich ganz empfunden
In ungeahnter Macht. |
5 Sie allein hat mich verstanden
In meinem dunklen Drang,/./
Durch sie ist mir erstanden
Des Lebens erster Klang.
6. Drum Starke an dir ich mich halte
Dir ganz vertrau ich mich an
Du kennst meines Herzensfalte
ohne dich ich nichts machen kann!
7. Drum k/w/ollen zusammen wir streben
In kühnem Geistesflug
Nicht an g/G/emeinem kleben
Hinauf! mit einem Zug.
fecit(lat.) geschaffen von. Hildebrand
Ich mache dir hiemit einen Vorschlag, den
du in deiner geruhsamen Schäferei ganz leicht ausführen kannst.
Schreib mir ein kleines fideles ziemlich Schund
enthaltendes, passendes StückWedekind schrieb das Stück nicht. für den nächsten MaturitätswixAbiturabschlussfeier, bei der die Verbindungsschüler und die Wildenschaft (die zu keiner Verbindung gehörenden Schüler) ihre Trachten (Wixe) trugen; das nach Regularien mit Festrede, Liedern und witzigen Redebeiträgen veranstaltete Trinkgelage (Kommers), zu dem auch die Schüler der unteren Klassen eingeladen waren, fand traditionell am Abend der Zeugnisübergabe statt [vgl. Staehelin 2002, S. 75 u. 204]. Die Gymnasiasten der Kantonsschule Aarau erlangten die Maturität im Frühjahr eines Jahres, die Gewerbeschüler im Herbst. Der nächste Maturitätswix fand also im Herbst 1881, am 30.9.1881, statt [vgl. zum Datum auch Oskar Schibler an Wedekind, 17.9.1881]. |