Genf den 2. Juli 81.
Mein lieber Franklin!
Dein Briefchenvgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 30.6.1881. hat mich recht gefreut; ebenso das Gedichtchenvermutlich „Willkommen schöne Schäferin“, später „Frühling“ genannt [vgl. KSA 1/I, S. 391 und 1/II, S. 1581]. mit dem Bildchendas Portrait der „Galathea“. Eine mit „Galatea“ betitelte Bleistiftzeichnung, die „ein ernstes, gereiftes Frauenporträt im Halbprofil“ zeigt [KSA 1/II, S. 1543], befindet sich in einem Skizzenbuch mit der Aufschrift „Album“, das Einträge zwischen Weihnachten 1882 und September 1897 enthält [Blatt 3r, vgl. auch KSA 1/I, S. 778].. Dieses beweist wirklich die Hand eines
sich offenbarenden Meisters. Deine Galatea(griech.) die Milchweiße, in Wedekinds Hirtendichtung die Schäferin in Anlehnung an den in der antiken Dichtung beliebten Namen für schöne Schäferinnen [vgl. KSA 1/II, S. 1574]. ist wirklich ein Ideal der Kunst; nie wird die verkümmerte
Natur dergleichen Geschöpfer(schweiz.) Schöpfer, Erschaffer.
sich rühmen können. Gewiss! ein
junger Kaulbachim übertragenen Sinn Nachkomme des deutschen Historienmalers Wilhelm Kaulbach, dessen Malerfamilie 1881 schon in dritter Generation zur Berühmtheit gelangt war. schlummert in Lenzburgs Schloßhallen.
Ja, vielmehr noch! Kaulbach ist zugleich Schäfer. Seine Füße treten den
wohlrüchigsten Koth der Erde, seine Hauptlocken ragen in die Feuerwolken des
Himmels hinein. Kaulbach verfaßt Pastoralien. Mit Spannung erwarte ich dein
nächstes, größeres Schäfergedicht; gerne will ich commentiren, (du weißt, ich
besitze auch etwas Phantasie im Magensack) und es kritisirend der | erstaunten
Welt, den strohköpfigen Kalauerprofessoren vor die Nase reiben: „Das hat der
verpönte Schloßzauber geschaffen“ und solch’ herrliche Kritik übt der „blödsinnige Prophet von der Aare.“! Gewiß wir
werden Ruhm ernten. Freue dich mit mir, du, Männlein aus der Wolke! Schon hab ich mir einen Lorbeerkranz aus bestem Schafmist um die Schläfen geträumt
und Du – Du standest zu meiner Linken auf einem Marmorschemel und sahst um deines Rumpfes Länge auf
mich herab. Also gute Omina(lat.) Vorzeichen, Vorbedeutungen.
für dich. Vorwärts! auf der parnassischen
Sprossenleiterdie Stufen zur vollendeten Kunst, in Anlehnung an Platons Stufenleiter der Erkenntnis und den Berg Parnass, der in der griech. Mythologie Heimat der Musen (Göttinnen der Künste) ist.! Vorwärts mein ProselytNeubekehrter., du neugebackener „Obsimistvermutlich ironisch gemeinte Wortschöpfung aus den Begriffen ‚Optimist‘ und ‚Pessimist‘..“ – In der That, Du hast dich bekehrt? Bist
Optimist geworden? Das freut mich ungeheuerlicher Maßen. Nun wollen wir uns
verbrüdern, denn ich bin ans Extrem der Weltverachtung gelangt und:
Wenn/o/ die Extreme sich verbinden,
Da giebt es einen guten Klang!?
Das e/E/ine muß vom Himmel schinden, |
Das Andere vom Erdentang:
Giebt einen prächt’gen Wolkensang.
Ich will jedoch meine Poesie nicht an dich
vergeuden, bevor du mir den Beweis gegeben, daß du Besseres leistest. Deine Galatea
war auch gar zu idyllisch – schäfermädchenkleidlich, /–/ wässerlich –
seicht. Sieh, mein Lieber, zwei Verliebte brauchen im Landregen auch nicht
einmal einen MantelVögtlin dürfte sich auf die dritte Strophe des Gedichts „Willkommen schöne Schäferin“ bezogen haben. In der überlieferten Fassung „Frühling“ (1897) heißt es: „Und trübt sich der Sonne goldiger Schein / Und fällt ein kühlender Regen, / Dann ist mein Mantel nicht zu klein, / Wollen beide darunter uns legen.“ [KSA 1/I, S. 391];
sie decken am Besten sich einander. (Wenn doch gezotetanzüglich gewitzelt. sein soll.) Das Maskulin ist gewöhnlich oben
und es schadet nicht im Mindesten wenn seine heiße Leidenschaft etwas abgekühlt wird. Sie
könnte, in ihrem vollsten Maße zum ungestörten Ausbruch gekommen,
leicht für immer zur Neige gehn. – Du sprachst dann von der
Leidenschaft der Liebe, ob sie bekämpft werden kann? Im Allgemeinen nicht; aber
es giebt Ausnahmen. Ich verweise deine Aufmerksamkeit auf Schillers Prosastück: Eine großmüthige
Handlung aus der neuesten Geschichte. Ich könnte bei der
Auseinandersetzung leicht ernst werden. Sie erforderte auch mehrere Seiten und
dann | müßte ich dabei auf die Mängel meines FreundesCarl Schmidt, der mit Wedekind und Adolf Vögtlin befreundet war [vgl. die Briefe Wedekind an Adolf Vögtlin, 30.6.1881 und 5.7.1881]. zu sprechen kommen, auf seine bekannte
Schwärmerei &
Großsprecherei, die deine Frage veranlaßt haben. Du mußtest natürlich auf jene
zweifelnden Gedanken geleitet werden. Aber sieh! ich spreche nicht gern von den
Schäden &
Mängeln eines lieben Freundes. Es ist genug, wenn wir unsere
gegenseitigen Fehler kennen und sie unwirksam zu machen wissen, W/w/ir
brauchen sie nicht einander auszurupfen oder gar noch vor Dritten plan zu
legen. Ein nächstes Mal werde ich einen edleren Brief zu schreiben versuchen.
Schreib mir bald, was zuSchreibversehen, statt: du.
treibst. Studire recht fleißig neben dem Poetisiren; die Phantasie kann doch
nicht alle Thatsachen &
Folgen aus sich ergänzen. Beobachte auch die Natur in ihrem Werden & Vergehen. Nur so
kannst du weiter kommen. Lebe recht wohl! Herzliche Grüße von meinen CumpanenDie Medizinstudenten Leopold Frölich, Wilhelm Schibler und Hans Sigrist, die im Frühjahr 1881 mit Adolf Vögtlin an der Aarauer Kantonsschule die Matura erlangt hatten und nun mit ihm in Genf studierten. am LemanLe Léman, (Schweizer Französisch) Genfersee. und einen warmen Gruß
der freudschaftlichen
Liebe von
Deinem
Adolphe Vögtlin.
[Am linken Rand um
270 Grad gedreht:]
Es wird mich freuen, recht häufig mit dir Ideen
auszutauschen, oder dich, so mir möglich, in deinen Meinungen zu corrigiren.
Adresse. – chez Mr Morel, rue Kléberg 14.
Vom dritten August an treffen mich die Briefe in der Kaserne Genéve.
Infanterie-RekrutAdolf Vögtlin absolvierte die sechswöchige Rekrutenschule (4.8.-15.9.1881) für Infanterierekruten der I. Armeedivision in der Kaserne Genf [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 61, Nr. 15, 16.1.1881, Beilage, S. (6)]..