Genève 30. Juli 81.
Mein lieber Franklin!
Empfange hiemit schnell einige Zeilen von deinem Altenvon Wedekind verwendeter Aliasname Adolf Vögtlins, den dieser möglicherweise auch bei den wöchentlichen Kneipen benutzte.. Sie möchten Dir
nur schnell bedeuten, daß der Alte für einige 6 Wochen sich der Correspondenz
enthalten muß, da er vom Militärdienst in Anspruch genommen ist. Ich bitte dich
daher nicht zu zürnen, wenn in dieser Zeit auf einige allfälligeetwaige. liebe Briefe von Dir,
deren ich sehr gerne zu erhalten wünschte, keine Antwort von mir erfolgen
sollte. Du weißt ja ungefährWedekind hatte an der Kantonsschule Aarau in der I. und II. Klasse am Militärunterricht teilgenommen. Der Lehrplan sah für alle Schüler in den Sommersemestern „Soldaten- und Compagnieschule, Geschützbedienungs- und Zugschule“ vor sowie „Richt- und Schießübungen mit Geschütz und Gewehr. Marschsicherungs- und Vorpostendienst. Uebungen im Kartenlesen im Terrain, im Diestanzenschätzen, Recognisciren, Anfertigung von Croquis und Terrainbeschreibungen, Orientierungsübungen. Lösung leichter taktischer Aufgaben für Infanterie und Artillerie. Kleine Gefechtsübungen.“ Im Wintersemester wurden die Schüler der II. und III. Klasse jeweils einstündig in der Waffenlehre und Schießtheorie unterrichtet [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule 1881, S. 25].,
wie’s im Kasernenleben zugeht. Es wird mir unmöglich sein während der
Rekrutenschule weitere Correspondenz als mit meinem Liebchennicht ermittelt., Mutter und SchwesterAdolf Vögtlin hatte zwei Schwestern. Hier dürfte die verwitwete Anna Sophie Keller-Vögtlin, die ältere der beiden, gemeint sein [vgl. Stammbaum Vögtlin und Familienkarte Vögtlin Johann Jakob in: Stadtarchiv Brugg Q 014.1.42]., die eben
meiner Mittheilsamkeit bedürftig sind, zu pflegen. Also noch|einmal bitte ich
um alsdannige(schweiz.) im Sinne von: dann, wenn der Fall eingetreten ist.
Entschuldigung.
Diese Woche habe ich eine schöne Fußtour gemacht
und hätte gerne, trotzdem ich mich auch im einsamsten Thale nie verlassen
fühlte, einen Verwandten meines Geistes um mich gehabt. Meine Reise ging über Nyon – Mont TendreBerggipfel (1679 m) im Kanton Waadt, höchste Erhebung im Schweizer Jura. – Lac de JouxSee im Kanton Waadt (1004 m), 9 Kilometer lang, 1 Kilometer breit. – Vallorbes – Yverdon – La Chaux de fonds –
Neuchatel – Estavayer – Fribourg – Lausanne – Genève. Mit
Ausnahme von einem einzigen Tage hatte ich prächtiges Wetter u habe viel neue
Eindrücke mit nach Hause gebracht. Ich habe mich jedoch kolossal angestrengtDie gesamte Tour ist etwa 335 Kilometer lang mit jeweils circa 4.550 Metern An- und Abstieg und 69 Stunden Wanderzeit. und bin heute noch sehr
müde. Eigenthümlichen Eindruck machte auf mich die Fontaine (frz.) Quelle.der Orbe
bei Vallorbes. Das Flüßchen bildet nämlich den Lac d. Joux u den Brenet-SeeLac Brenet, ein kleiner, sich ans Nordufer des Lac de Joux anschließender See., die
keine Ausflüsse haben u kommt dann plötzlich bei Vallorbes
wieder zum Vorschein u sprudelt gleich einer ungeheuren Quelle aus den | Kl/a/lkschluchten
hervor. Woher und wie? Die Wunder der Natur sind so manigfaltigSchreibversehen, statt: mannigfaltig. als es Naturen giebt. Sie gräbt
stundenlange Tunnel in einem Athemzuge; die menschliche Kraft, t/T/ausende
von armen Teufeln siechen bei der gleichen Arbeit dahin. – Vor meiner Abreise
hat’s hier in Genf tüchtig geerdbebnetDie Presse berichtete über das Erdbeben vom 21./22.7.1881, dass sich „Donnerstags Abends 7 Uhr“ mit einem Erdstoß in Genf ankündigte, dem „zwei weitere Stöße [...] um Mitternacht und noch drei, und zwar ziemlich starke, um 2 Uhr 40 früh“ gefolgt waren [St. Galler-Zeitung, Jg. (51), Nr. 171, 25.7.1881, S. 688f.].,
und mich hat der zweite Stoß ganz sachte über den Bettrand hinausgeworfen. Das
war ein bli kitzliges Gefühl / so mitten in der Nacht. Bin dann von 3 Uhr an auf geblieben und
habe mich an den Sündertisch der Dichtung gesetzt. Kannst dir denken, was für
göttliche Erdbebenpoesie da herauskam. Ein paar Tage vorher brannte es im vis-a-vis(frz.) gegenüber, Gegenüber.. Das war
auch wieder hübsch, wenn die rothen Flämmlein so liebkosend zu uns
herüberzüngelten. Auf der Reise schlug der Blitz in den Bahnzug, den ich ein
paar Minuten verlassen hatte. Ich kam wieder zu meinem hirneschwerenWortschöpfung, wohl ironisch im Sinne von: geistreich (mit viel Hirn). Schlußsatz: „Unkraut, | das
verdirbet nimmer!dialektale Variante der Redewendung: Unkraut vergeht nicht.“ Sonst hätte mich der Teufel schon lange heruntergeschaufelt.
Nun habe ich m/M/uth im Leibe und werde künftig tüchtig drauf los
sündigen. – In deiner letzten
Auseinandersetzungvgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 10.7.1881. über die Liebe kommst du, obgleich du es nicht
glaubst, meiner Meinung näher als je. Du sagst, daß bei der Liebe zwischen den
verschiedenen Geschlechtern, noch ein thierisches Moment hinzukomme. Das
gestehe ich zu, ohne zu erröthen, obgleich du mich vielleicht für Platonikervermutlich Schreibversehen, statt: einen Platoniker (oder: platonisch); hier im Sinn einer rein geistigen, asexuellen Liebe gemeint. hälstSchreibversehen, statt: hältst.. Mit jener
Aussage aber gestehst z/D/u zu, daß es verschiedene „Arten“ von Liebe
gibt. Warum sollte uns ein Kampf nicht möglich sein u gerade da ja der Mensch
darauf aus geht, Alles thierische von sich zu werfen. Dies/s/es Eine
wird ihm glücklicherweise nie gelingen. Aber erinnere dich, wie manches Drama
hat den Kampf zwischen Mutter- & Geschlechtsliebe schon zum Objekt
genommenGedacht haben dürfte Adolf Vögtlin an die vielen Dramen, die die tragische Geschichte des Ödipus, der seinen Vater Laios ermordete und seine Mutter Iokaste heiratete, zum Thema wählten, allen voran die griechische Tragödie „König Ödipus“ von Sophokles.? Freilich trug die letztere den Sieg davon; aber das
Gegentheil wird möglich und es macht den Menschen zum Gotte. Der thierische
Trieb kann vom Geiste besiegt werden.
Lebe wohl! Dein
Adolphe
Adr. A.V.
recrue d’infanterie(frz.) Rekrut der Infanterie; Adolf Vögtlin absolvierte die sechswöchige Rekrutenschule (4.8.-15.9.1881) für Infanterierekruten der I. Armeedivision in der Kaserne Genf [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 61, Nr. 15, 16.1.1881, Beilage, S. (5)]., IV. Compagnie
Caserne, Genève.
[Am linken
Rand auf Seite 4:]
Wenn du nach Solothurn gehstWedekind wollte an der Kantonsschule Solothurn seine Schullaufbahn fortsetzen. Eine Rippenfellentzündung im August 1881 verhinderte den Plan, wünsche ich zur Prüfung herzlich
Glücke. Schönen Gruß von Pöldi. Wirst du dich vielleicht auf dem dortigen Bahnhof presentiren wenn
wir durchreisen auf der Heimkehr? Es würde uns freuen!
Schreibe bald einen lieben Brief.
[Am linken
Rand auf Seite 1:]
Bin also von 3 August an in der Kaserne. Briefe brauchst du also nicht zu
frankiren.