Kennung: 2194

Brugg, 23. September 1881 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Vögtlin, Adolf

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Brugg den 23. Sept 81.


Mein lieber Franklin!

Du siehst, daß ich die Musenstadt Genf verlassen, daß ich von RousseauDer Schriftsteller, Musiker, Philosoph und Pädagoge Jean Jacques Rousseau ist in Genf geboren und aufgewachsen und war Bürger der Genfer Republik. u CalvinDer Reformator Johannes Calvin lebte seit 1536 in Genf, wo er 1564 starb. Abschied genommen, vielleicht auf Wiedersehen. Wie mich dein BriefWedekind an Adolf Vögtlin, 10.8.1881. im Staatsformateidgenössisches Folio- oder Kanzleiformat (22 x 35 cm). gefreut, kannst Du Dir denken. So ganz in sich selbst, in philosophische Träumereien versunken, plötzlich durch einen zündenden Gedanken wieder aufgeschreckt zu werden, thut mir gut. Ich bekam ihn gerade zur Mittagszeit. Da hatte ich MußeAdolf Vögtlin dürfte während seiner sechswöchigen Rekrutenzeit in der Kaserne von Genf (bis zum 15.9.1881) wenig Freizeit gehabt haben., zu lesen. Bevor ich jedoch weiter auf jene Zeilen, eingehe, muß ich dich fragen, ob Du wieder auf deinen Knochen herumbummeln könnest. SchmidtCarl Schmidt, der die IV. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau besuchte, war sowohl mit Wedekind als auch mit Adolf Vögtlin, der wie Carl Schmidt in Brugg aufgewachsen war, befreundet. hat mir nämlich mitgetheilt, du seiest ernstlich erkrankt gewesen. Was hat dich ins | Bett gelegt? Vielleicht die Faulheit selbst, die Mutter aller Laster & Krankheiten? Vielleicht neue Liebesqualen? Doch nein! Du bist ja über diesen Schwindel erhaben. Du hast dich aus diesem Erdendunst zum Aetherthron der Wahrheit emporgeschwungen. Theile mir also sofort mit, wie du dich befindest & woran du krank gelegenWedekind, der sich Mitte August eine Rippenfellentzündung zugezogen hatte, musste 5 Wochen das Bett hüten [vgl. auch Wedekind an Oskar Schibler, 14.9.1881]. hast.

Ich meinerseits fühle mich heute gesunder, kräftiger als je. Der Militärdienst hat mir gut zugeschlagen. Ich habe auch neue Freundschaften geschlossen, derer ich mich freuen darf,. Kameradschaft geschlossen mit unsern Brüdern im Welschlande(schweiz.) die französischsprachige Schweiz.. Sie haben mich wider Erwarten zuvorkommend aufgenommen und sie, ihrerseits, fanden mich nicht so ungehobelt, wie man die deutschen Bauernsöhne sich das vorzustellen gewohnt ist. | Alle nahmen herzlich, ich möchte fast sagen, gerührt von mir Abschied. – Nun bin ich zum Avancement(frz.) Beförderung. vorgeschlagen worden u trete wahrscheinlich in die Ende Oktober in Aarau beginnende Aspiranten-SchuleOffizierschule der Schweizer Armee. Der Kurs für die Infanterie dauerte vom 15.10.1881 bis zum 25.11.1881 [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 61, Nr. 15, 16.1.1881, Beilage zu Nr. 15, S. (5)]. ein. Bis dahin nehme ich noch Ferien; nachher verreise ich höchst wahrscheinlich wieder nach Genf, um die Franz. Sprache mir gründlich anzueignen.

Während der Ferien komm ich einmal, Besuches wegen, nach Lenzburg und wenn du dann noch zu HauseWedekind hatte die in Aarau abgebrochene gymnasiale Laufbahn an der Kantonsschule Solothurn fortsetzen wollen. Seine Erkrankung vereitelte den Plan. sein solltest, so hoffe ich, dich zur einem Rendez-vous(frz.) Verabredung., zu einem gemüthlichen Schoppenälteres Hohlmaß, in der Schweiz etwa 0,3 bis 0,5 Liter. 1877 von der Einheit Liter ersetzt, blieb der Begriff in der Umgangssprache geläufig. einladen zu dürfen. Diese Zusammenkunft kann uns vielleicht auf ferne Jahre hinaus verbinden, auch wenn uns Länder u Meere trennen. (Ich hoffe nächstes Jahr in EnglandAdolf Vögtlin studierte im Frühjahr 1882 in England und erhielt nach dem Masterabschluss (Ende Mai 1882) eine Anstellung in Burnemouth [vgl. Carl Schmidt an Wedekind, 4.6.1882]. mich aufzuhalten). Nächste Woche gehe ich nach Baden. | Wenn du schreibst, so adressire: )R A. V. pr. Adr. Frauen Wwe. Keller-VögtlinAnna Sophie Keller-Vögtlin, die ältere Schwester Adolf Vögtlins., Vorstadt, Baden. Ich bleibe dort bis Ende Mitte Oktober.

Nun noch schnell eine kleine Bemerkung zu Deinem letzten BriefeWedekind an Adolf Vögtlin, 10.8.1881.. „Der Mensch kennt keine andere Liebe als den Egoismus.“ Du gehst so weit, die Liebesdienste gegen das Gewissen, als EgoismusDer für Wedekind signifikante Egoismus-Diskurs [vgl. KSA 2, S. 820, 839f.] durchzieht die gesamte Korrespondenz mit Adolf Vögtlin. zu erklären. Das Christenthum hält als Rächerin für Verbrechen, als Straferin vernachlässigter Wohlthaten das Gewissen im Hintergrund. Man soll sein Gewissen immer zu beruhigen suchen. Dann kannst du glücklich sein. Man sollte sein Glück nicht suchen dürfen? Der Glückliche ist Egoist? Derjenige, der sich glücklich fühlt dadurch, daß er seine Mitmenschen glücklich gemacht hat, sollte Egoist sein? |

Endlich –: Sind Gewissen, Glück und Gott nicht Eines? Also wer seinen Gott zu befriedigen sucht, wer lebt nach dem „Willen des Herrn“, huldigt dem Egoismus? Egoismus, ein Wort, das in sich selbst zusammenfällt, wenn man seinen Begriff so weit, so ins Unendliche ausdehnen will, /–/ ein abscheuliches, fades, nichtsagendesSchreibversehen, statt: nichtssagendes. Wort!

Du mußt bestimmt den Begriff des Egoismus einschränken. Du darfts/st/ ihn nicht aus das anwenden, was den Menschen den Göttern nähert. Eine StaattseinrichtungSchreibversehen, statt: Staatseinrichtung. kann egoistisch sein, der Mensch im Allgemeinen darf nicht Egoist genannt werden. Wer eine Wohlthat thut, um sein Gewissen frei u frankRedensart ‚frank und frei‘ für: offen und ehrlich. zu halten, ist nicht Egoist. Er handelt dabei nicht eigenmächtig. Das Gewissen befiehlt ihm die Handlung: | Er muß.

Zum Ende: Wie viele tausende von schönen Handlungen vollziehen sich nicht h/t/äglich, möchte ich fast sagen?, ohne daß die Handelnden auch nur einen Gedanken an innere Befriedigung dächten? Im Kleinen: Denke an Rettungen bei Feuersbrünsten, bei Wassersnöthen, im Kriege, wo die Gefahr nicht einmal den Gedanken erlaubt, wo die That sich aus „Instinkt“ vollzieht, wo die Noth drängt! Wer möchte da von Gewissensberuhigung sprechen? Wer möchte an Egoismus denken. Es ist das Menschliche, das die Menschen aneinander kettet, das sie zwingt, sich zu helfen, wo u wann Noth ist. Ich könnte dir Beispiele aufzählen, von Wohlthaten, bei denen zur Ausführung nicht Zeit vor|handen war, noch an Gewissensbisse der Zukunft, noch an Ehre u Ruhm, noch an irgendwelchen ein inneres Vergnügen zu denken, bei denen nur Zeit w/da/ war, Gedanken zur Vollbringung zu fassen.

Wohl kann Egoismus die Welt beherrschen, die Menschen beherrscht er nicht.

Solltest duwiederaufgehobene Streichung. es dennoch finden, dann müßtest du ihn noch qualifiziren.

Diese paar Worte mögen dich zu neuem Nachdenken anregen. Sobald ich meine alte Definition von Egoismus wieder in meinem Kürbis zurecht gestellt habe, mußt du sie haben.

Grüße mir Deinen Bruder herzlich u empfange Du meinen wärmsten Handschlag.
Dein Kasp. A. Vögtlin. |


Und wenn es doch so wäre? Wenn dem eignen Selbst
Zu dienen nur die Erde Du uns schenktest,
Warum schufst du der Selbstlerwesen zweie?
Und gabst verschiedene Gestalten beiden?
Gabst diesem voll, wornach das a/A/ndere lechzte
Und süße Stillung b/B/eiden, damit sie sie,
Wenn Schmerz das Eine dünkte, zart verschenkten? |

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 2 Doppelblatt. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Am Kopf der Seite 1 befindet sich ein dicker circa 0,5 x 1 cm großer Tintenstrich.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Brugg
    23. September 1881 (Freitag)
    Sicher

  • Absendeort

    Brugg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 175
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Adolf Vögtlin an Frank Wedekind, 23.9.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

20.04.2022 15:30