Baden
den 30. Sept. 81.
Mein lieber Freund!
Atomen gleich zerstäuben die Gedanken im weiten,
nebelhaften Geisterraum; a/A/tomen gleich in unsehbare Schranken zwängt
Ein Gedanke sie in leichtem Traum: Ein Sonnenstrahl.
Wir glaubten uns unendlich weit auseinander in
unsern Ideen und waren uns so unendlich nah, daß wir unsere Nähe nicht fühlten.
Wir fühlten uns nicht, weil wir Eins waren. Ich habe nun deine Hauptanschauung
und Erklärung dessen, was d/D/u unter EgoismusDer für Wedekind signifikante Egoismus-Diskurs [vgl. KSA 2, S. 820, 839f.] durchzieht die Korrespondenz mit Adolf Vögtlin. verstehst vollkommen
begriffen und könnte sie billigen, wenn ich wollte. Deine Auseinandersetzung
habe ich mitgefühlt; sie hat mich begeistert und ich verstehe dich. Wenn
du das unter Egois/s/mus verstehst, dann will ich gerne
Eigenliebler sein, dann ich will ich die ganze Menschheit
für Egoisten gelten lassen. „Die Eigenliebe ist die Stütze der menschlichen
Gesellschaft, die Quelle aller schönen Thaten“; so sprichst du dich ausvgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 24.9.1881.. Gut! aber warum dann,
lieber Franklin, hast du nöthig darüber zu schimpfen, die Menschen als Egoisten
auszuhudelnauszuschimpfen., dich
verächtlich darüber auszudrücken, wenn doch der | Egoismus die Triebfeder zu
allen vornehmen Thaten ist? Sollen diese verbannt sein aus dem menschlichen
Zusammenleben? Es soll sich kein Wesen vor dem andern hervorthun, jedes Ich dem
andern gleich werden? mit einem Wort: Der Sozialismus soll über die Menschheit
seiner/e/n Schlummertrank, sein vergiftendes, entkräftendes Morphium
ausgießen. Wir sollen uns selbst, wir sollen das Ich nicht mehr, nur unsern
Nächsten liebenDiskussion um die Auslegung des Gebots: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.“ (Levitikus (3. Buch Moses) 19,18)? Jeder soll seine Liebe verschenken an seinen Bruder. Keiner
ist ja lieblos! Ja! aber dem Einen gab Gott die Liebe zur Kunst, dem a/A/ndern
zum Fleisch, dem Dritten Barmherzigkeit gegen Mensch u Thier, wenn ich mich so
naiv ausdrücken darf. Und es war gut so. Hätte er Alle in gleicher Weise und in
gleichem Maße beschenkt – das würde sauber herausgekommen sein! Sollte er darum
„parteiisch“ genannte werden dürfen? Ich glaube nein! Gründe dafür
kannst Du dir selber in Genüge aufzählen. = Kurz: Du hast das Wort Egoismus
verfolgt u vertheidigt bis in die Tiefen hinab, wo wir eigentlich keinen
Egoismus mehr finden, nachdem du vorher den Menschen als Egoist vertheidigt verdammt hast/tt/est.
Gründlich hast du dabei gedacht u haarscharf; aber du hast damit deinen Pessismismus
verdammt.
Der Mensch liebt sich selbst. Er kennt keine
andere Liebe. Ich frage dich, warum? Ist er daran Schuld, daß
er sich selbst liebt? Du wirst gestehen müssen:, n/N/ein! Folglich
darfst du ihn des | Egoismus beschuldigen, darfst du ihn gering achten? Ich
glaube wiederum: „Nein!“ Hier, an dieser Grenze des Denkens, wo der Geber Gott
die Unendlichkeit eintreten läßt, wo der Ursprung u das Ende des
Menschengeschlechtes zusammenfällt, fällt auch Deine An/Be/schuldigung
in Nichts zusammen. Glaube du nun, der Mensch sei Egoist; ich
möchte ihn hier anders betitelt wissen, oder dann den Ausdruck
„Egoismus“ nicht auf kleinliche Sachen angewendet wissen; oder endlich:
er ist dann anzuwenden, wenn den er absolut nichts
Vorwürfiges bedeuten soll.
Ich gehe nun mit dir so weit, den Menschen als
Egoisten an zu erkennen; aber ich verachte diesen Egoismus nicht. Ich
könnte dir auch leicht beweisen, daß er nicht einmal dies ist, daß er
nicht sich selbst liebt – doch wir kömmen auf die Untersuchungen über die
Gottheit. Du brauchst nicht zu wissen, was ich Gott nenne, bis ich des Begriffs
ganz klar bin. Ich bin vielleicht klar; aber ich wage es nicht, das
Gefühl & die Gedanken auszusprechen. Ich behalte meinen Gott in furchtbarem „Egoismus“
und theile das Vergnügen in Gott nicht einmal mit meinem liebsten Bruder, nicht
mit meiner Geliebten, nicht mit dir, lieber Franklin. Der Geiz stößt m/d/einem
Gewissen die Riegel. Ich gebe das Glück nicht heraus, weil .... weil es für
einen Andern ein Unglück sein könnte.
Ich hoffe übrigens<,> mit dir mündlich über
das Verhandelte noch | einmal sprechen zu können. Ich ersehne den Moment, da
wir allein unsere Gedanken in traulicher Rede auseinandersetzen; unsere
Gefühle austauschen können.
Ich möchte Dich noch auf zwei Aussprüche unse/zweier
unserer Denkherren aufmerksam machen, die du das letzte Mal citirtin Wedekind an Adolf Vögtlin, 24.9.1881. hast: „Kein Mensch muß müssen.Zitat aus Lessings „Nathan der Weise“ I/3 (1779).“ Du
hast Lessing
mißverstanden oder gar nicht. Denke noch einmal darüber nach, bevor du mein „Er
muß“Zitat aus Vögtlins letztem Brief [vgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 23.9.1881]. be/ve/rurtheilst. „Ich habe schon so häufig die Vorschriften meines
Gewissens übertreten“, sagst Du: Was hat dich dazu bewogen? Du mußtest
den Lockungen folgen, du konntest nicht anders.
Schiller: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist freiZitat aus Schillers Gedicht „Die Worte des Glaubens“ (1797).“; ja! wenn ...!.*
* Hierüber werde ich dir einst ein Sonettein Gedicht, das in der italienischen Grundform aus 2 Vierzeilern (Quartetten) und 2 Dreizeilern (Terzetten) mit je elfsilbigen Versen besteht. – Das angekündigte Sonett ist nicht ermittelt. schicken!
Lebe nun wohl, lieber Franklin! Dein letzter
Briefvgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 24.9.1881. hat mich gefreut u gehoben wie noch keiner dieser Art. Ich danke dir u
hoffe, daß, wenn unsere Anschauungen auseinander gehen sollten, doch das
Streben nach Wahrheit, die Pflege edler Freundschaft uns für das Zeitliche
verbinden wird. Sollten wir uns auch in den Meinungen als GegenfüßlerAntipoden, „die Bewohner zweier einander diametral gegenüberstehender Orte der Erde. Ihre Füße sind einander zugekehrt; sie haben um 180° verschiedene Länge, entgegengesetzte Breite, Tages- und Jahreszeiten“ [Meyers Konversationslexikon 1905-1909, Bd. 1, S. 586]. oder besser als
Extreme herausstellen, so thut das nichts zur Sache.
Les extrèmes se touchent.(frz.) Die Extreme berühren sich. Sprichwörtliche Redensart.
In unverbrüchlicher Treue
Dein
Kasp Ad Voegtlin.
Gute BesserungWedekind erholte sich von einer Rippenfellentzündung, mit der er 5 Wochen krank im Bett gelegen hatte. u fröhlichen Herbst!