Bern
(Mattenheimhistorische Adresse, vermutlich Pension in Bern, im Holligen-Drittel mit den Hausnummern 308 und 309 [vgl. Adressbuch der Stadt Bern. Bern 1881, S. 134, 229, 257].) 14. Dez
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D
Mein lieber Freund!
Wie ich heute so meine Briefmappe
durchstöberte, kommen mir auf einmal Briefe mit Deinem mir theuren Namen
unterzeichnet in die Finger. Ich überfliege die von jugendlichem Uebermuth strudelnden
geistvollen Blätter, die mir die selige Jugendzeit, die ich in Lenzburg verlebteMoriz Dürr hatte bis zum Sommer 1878 gemeinsam mit Wedekind die Bezirksschule Lenzburg besucht. Wedekind schrieb seinen Namen in ein chronologisches Verzeichnis am Ende seines Münchner Tagebuchs: „1877 Moritz Dür“ [Tb, nach 22.10.1890 (S. 114)]., aufs lebhafteste
in’s Gedächtniß zurückrufen. Seither war ich nicht mehr dort:
Je größer der Zeitraum ist, der zwischen jetzt & damals liegt, desto zarter &
sonniger wird der poetische Dunst/ft/, durch den ich in jene Zeiten
zurückblike. Es ist mir wahrhaft | unbegreiflich, wie wir uns, einst die besten
Freunde, nur so vernachlässigen konnten. Aber ich kann Dir betheuren, bei mir
ist die Liebe & Anhänglichkeit an Dich nicht ausgestorben, sie hat nur
ihren Winterschlaf gehalten und tritt jetzt mit erneuter Kraft wieder zum
Bewußtsein. Du hast es vielleicht selbst erfahren, daß man so in dem Alter
besonders wenn man an e. fremden OrtMoritz Dürr hatte im Herbst 1881 das Gymnasium Burgdorf in seiner Heimatstadt verlassen und besuchte seitdem die Kunstschule am Kunstmuseum (Waisenhausstrasse 12) in Bern [vgl. Adressbuch der Stadt Bern. Bern 1881, S. 125]. ist & jeder Tag wieder Neues bringt & der
Sturm des Lebens an uns herantritt, daß man sich da leicht nur mit der
Gegenwart beschäftigt & daß man selten oder nieSofortkorrektur: aufgehobene Zusammenschreibung. an seine Vergangenheit
zurückdenkt. Heut nun zum ersten Mal bin ich gezwungen, es zu thun, indem eine
leichte Krankheit mich an’s Zimmer | fesselt. Es läßt mir jetzt
keine Ruhe ohne alle Nachrichten von Dir zu sein & denken zu müssen, daß
ich durch meinen Leichtsinn Dich vielleicht für immer verloren habe, denn ich
weiß überhaupt nicht ob Du von einem solchen Freund noch etwas
wissen wollest? Ich kann Dir allerdings nicht viel bieten, als von nun an ewige
Liebe & Treue eines aufrichtigen Freundes. Das letzte was Du mir schriebstnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Moritz Dürr, 19.4.1881. war
damals im April 1880Schreibversehen, statt April 1881. – Ein früheres Schreibjahr ist ausgeschlossen, da Wedekind zwischen Sommer 1878 und Winter 1880 nur zwei Briefe an Moritz Dürr geschrieben hatte [vgl. Moritz Dürr an Wedekind, 31.12.1880], keinen davon im Frühjahr [Wedekind an Moritz Dürr, 31.12.1878 und Wedekind an Moritz Dürr, 30.12.1880]. Im Sommer 1881 verließ Moritz Dürr Burgdorf, so dass das Korrespondenzstück auch nicht im April 1882 geschrieben sein kann.
als Du im Sinne hattest nach Burgdorf
zu kommenMoriz Dürr besuchte von Sommer 1878 bis Sommer 1881 die Bezirksschule in Burgdorf. & mich um
Auskunft batestAnlass für das Schreiben dürfte der Umstand gewesen sein, dass Wedekind im April 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums der Aarauer Kantonsschule versetzt worden war (Zeugnis vom 14.4.1881) und Prof. Friedrich Rauchenstein, sein Pensionsvater in Aarau, einen Schulwechsel empfohlen hatte [vgl. Friedrich Rauchenstein an Wedekind, 17.4.1881]. Wedekind zog auch Erkundigungen über die Kantonsschule Solothurn ein [vgl. Wedekind an Richard Kunz, 6.6.1881] und meldete sich im Sommer dort (vergeblich) für die Aufnahmeprüfung an [vgl. Wedekind an Adolph Vögtlin, 5.7.1881].. Ich schickte Dir die verlangte Antwortnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Moritz Dürr an Wedekind, 20.4.1881. Ach was hatte ich
damals für eine grenzenlose Freude, Dich nun beständig in meiner Nähe haben zu
können vielleicht auch auf der gleichen Schulbank | zu sitzen. Aber wie grausam
zerstörts/e/st Du mein Glück, indem Du nicht kamst. Seither hab’ ich
nichts mehr von Dir vernommen, als hie & da abgebrochene Wortenicht überliefert; Hinweis auf mindestens zwei erschlossene Korrespondenzstücke: Wedekind an Moritz Dürr, 3.5.1881 und Wedekind an Moritz Dürr, 31.10.1881. wie, Du
seiest jetzt bleibend auf Deinem AhnenschloßWedekind erhielt mit Beginn des Schuljahr 1881/82 (3.5.1881) auf Schloss Lenzburg Privatunterricht.
oder dann wieder einmal Du seiest jetzt wieder nach Aarau zurückgekehrtZu Beginn des zweiten Schulhalbjahres 1881/82, Montag, den 31.10.1881, trat Wedekind erneut in die II. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau ein. Die Aufnahme beantragte Direktor Karl Maier am 27.10.1881. Die Genehmigung, am 28.10.1881 vom Erziehungsrat Ludwig Karrer unterschrieben, dürfte am 29.10.1881, einem Samstag, dem Direktorium in Aarau vorgelegen und Wedekind noch am selben Tag mitgeteilt worden sein.. Lieber Franklin
kennst Du mich noch? Willst Du wieder mein lieber Freund sein wie ehedem? Sage
nicht nein! Oh dann schicke mir nur 2 Worte oder wenns auch nur ein Haar ist
von Deinem theuren Haupte & Du wirst mich unsäglich glücklich & wieder
gesund machen.
Dein Dich innig liebender Freund
Moriz Dür