Hochgeehrte gnädige FrauDie Dame konnte noch nicht identifiziert werden. Dem vorliegenden Brief zufolge war sie eine Schriftstellerin („Dichterin“ und „Künstlerin“).!
Darf ich Sie bitten, es mir nicht als
Unzuverlässigkeit anzurechnen, wenn ich so lange brauchteDas Lied „Die neue Communion“ taucht auf Repertoirelisten auf, die Wedekind zur Vorbereitung der Tournee der Elf Scharfrichter vom 29.7.1901 bis 4.8.1901 dienten [vgl. KSA 1/IV, S. 1024f.], die mit dem Gastspiel am Wilhelma-Theater in Stuttgart ihren Auftakt (20./21.7.1901) nahm und mit dem Gastspiel im Spielhaus der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt (26. bis 30.7.1901) ihren Höhepunkt hatte; auf einer der Stationen dieser Scharfrichter-Tournee dürfte Wedekind der nicht identifizierten Dame versprochen haben, ihr das Lied zu schicken., um Ihnen beiliegende
Zeilen zu senden; aber die Feder streubt sich gegen manches, was der Mund
auszusprechenWedekind hat den nun aufgeschriebenen Liedtext „Die neue Communion“ bei Auftritten der Elf Scharfrichter während ihrer Tournee vom 29.7.1901 bis 4.8.1901 gesungen [vgl. die vorige Erläuterung]; zugleich darf die Bemerkung als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Bitte der Dame an Wedekind, ihr das Lied zukommen zu lassen, mündlich in einem Gespräch erfolgt ist. | wagt. Um so höher kann ich mich dafür auch durch Ihre liebenswürdige
Bitte geehrt betrachten.
Erlauben Sie mir, diese Gelegenheit wahrzunehmen,
um Ihnen für so manchen Genuß zu danken, den Sie mir als Dichterin und als
Künstlerin bereitet haben. Indem ich Sie bitte, den Ausdruck meiner
vorzüglichsten Hochschätzung entgegenzunehmen
Ihr ergebenster
Frank Wedekind.
München
2. April 1902.
[Beilage:]
[2 Zeilen Noten]
Die
neue CommunionDas nach dem 1891 entlegen abgedruckten Gedicht „Die neue Communion“ [KSA 1/I, S. 312-314; vgl. KSA 1/II, S. 2123-2126] entstandene Lied „Die neue Communion“ [KSA 1/III, S. 121-122; vgl. KSA 1/IV, S. 1017-1028] erscheint in der Beilage zum vorliegenden Brief erstmals unter diesem Titel [vgl. KSA 1/IV, S. 1017]..
Lischen kletterte flink hinauf
Bis in die höchsten Äste,
Fing in der Schürze die Äpfel auf,
Ihrer Mutter zum Feste.
Ich lag unten verliebt und faul
Auf dem Rücken im Grase;
Mancher Apfel fiel mir ins Maul,
Mancher mir auf die Nase. |
Jetzt stand Lischen auf starkem Ast,
Schelmisch sah sie hernieder;
Ihres Leibes liebliche Last
Wiegte sich hin und wieder.
Innig umschlungen hielten sich
Splitternackt ihre Füße,
Öffneten sich und befühlten sich,
Winkten mir tausend Grüße.
Durch das Röckchen sandte der Tag
Seine goldenen Strahlen,
Was darunter geborgen lag
Farbenprächtig zu malen.
Schimmernd rings um die weiße Haut
Wob sich gedämpfte Helle;
Welcher Meister hätt’ je gebaut
Prächtiger eine Capelle! |
Das Gewölbe so luftig leicht,
Schlanke, stolze Pilaster,
Unter Flammenküssen erweicht
Lebender Alabaster;
Voller strömte das Licht herein,
Bunter bei jedem Schritte;
Ach und ein flimmernder Heiligenschein
Floß um des Hauses Mitte.
Kindlich faltet’ ich da die Händ’,
Betete fromm und brünstig:
Du mein heiligstes Sacrament,
Werde dem Sünder günstig.
Laß michs küssen in seinem Schrein,
Lieblichster Himmelsbote;
Laß mich nippen an deinem Wein,
Naschen von deinem Brote. |
Sieh und am nämlichen Abend schon
Tief in die Kissen gebettet
Ward in andächtiger Communion
Meine Seele gerettet.