Genf, den 12. a/S/eptbr. 1883
Mein lieber Wedi!
Ohne Zweifel bist Du erstaunt einenSchreibversehen, statt: eine Epistel(griech.) ein langer Brief von mir zu
kriegen. Wie Du weisstFritz Rauber, der im Frühjahr 1883 an der alten Lateinschule in Brugg die Abiturprüfung abgelegt haben dürfte und anschließend das Studium an der Universität in Genf aufnahm, war mit Wedekind seit mehr als 4 Jahren gut bekannt. Gemeinsam hatten sie im Schuljahr 1879/80 die I. und im Schuljahr 1880/81 die II. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau besucht.,
bin ich hier in Genf in der Familie
SchärerDie Familie Schärer betrieb in Genf eine Pension, wie aus Zeitungsanzeigen hervorgeht: „Belles chambres meublées avec ou sans pension; prix modéré. S’adresser chez Madame Schærer rue Beauregard 1. 1262“ (Schön eingerichtete Zimmer mit oder ohne Verpflegung; moderate Preise. Kontakt Madame Schærer, rue Beauregard 1. 1262) [La Tribune de Genève, Jg. 8, Nr. 37, 13.2.1886, Ausgabe 4, (S.) 4]., die Du theilweise
ja sehr gut kennst, wie Du mir letzte Weihnachten gesagt hast. Deine einstige Flammevermutlich Emilie Scherer aus Baden, die im Schuljahr 1874/75 die I. Klasse des Lehrerinnenseminars Aarau besucht hatte [vgl. Zweiter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau Schuljahr 1874/75, Aarau 1875, S. 5], 1877 die Abschlussprüfung bestanden haben wird und vielleicht zu den drei jungen Frauen zählte, die anschließend in Lenzburg angestellt worden waren [vgl. Fünfter Jahresbericht über das Töchterinstitut und Lehrerinnenseminar in Aarau Schuljahr 1877/78, Aarau 1878, S. 8]. Wedekind dürfte sie 1878 kennengelernt haben, denn er notierte in einer chronologischen Liste im Anhang seines Münchner Tagebuchs „1878 Olga Plümacher. Emilie Scherer. Walter Oschwald“ [Tb nach 22.10.1890]. Beim Schülerfest der Kantonsschule Aarau am 30.1.1885 war Emilie Scherer offenbar anwesend. Denn von der Veranstaltung berichtete Emilie Wedekind ihrem Sohn Frank, dass sie „volle Gelegenheit“ gehabt habe „alle Deine mehr oder weniger Flammen von Angesicht zu schauen [...] das »Fahrländerli«, das Fleinerli, das Rynerli, das Schärerli und tanti quanti“ [Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1885]., Frl. Emilie, ist zur Zeit
in Lennef b Cölnvermutlich die Lennefermühle im oberbergischen Kreis, die etwa 26 Kilometer vom Kölner Dom entfernt im 19. Jahrhundert zum Kirchspiel Hohkeppel gehörte (heute zur Gemeinde Lindlar) oder die benachbarte Ortschaft Lenneferberg. Nicht auszuschließen ist, dass der etwa 55 Kilometer von der Kölner Innenstadt entfernte Ort Lennep bei Remscheid gemeint war. als
Erzieherin & wird noch ein Jahr in dortendort. bleiben. Wie ich hier sagte, daß ich den jungen Wedekind
kenne, wurde ich beinahe gefressen. Die Mädels wollten alle wissen, was Du
treibst; ob Du noch Gedichte machest etc. & erzählten mir die bekannte
Liebesaffaìre, die Du mit Emilie | gehabt hast. Zu gerne möchten sie etwas von
dem fiedelenSchreibversehen, statt: fidelen.
originellen Wedi hören. Und nun m Lieber mach diesen Dir sehr wohl
gesinnten Kindern eine Freude & lass einige Deiner Ergüsse hören; die
bekannten „bucolicadie Hirtendichtung, die Wedekind von Mai bis Juli 1881 auf Schloss Lenzburg verfasste und in ein blaues Heft betitelt „Bucolica“ schrieb, das ihm im Herbst 1898 während seiner Flucht in die Schweiz abhanden kommen sollte [zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte vgl. KSA 1/II, S. 1538-53]. Die Bucolica, die Wedekind seinen Dichterfreunden des Senatus poeticus im Frühsommer 1881 zur Kritik vorgelegt hatte [vgl. die Korrespondenzen mit Walter Laué, Oskar Schibler, Adolph Vögtlin], habe er, einer retrospektiven Äußerung aus dem Jahr 1908 zufolge, als Beiträge für die Kneipabende der Schüler in Aarau produziert: „Ich besang meine Umgebung mit dem einzigen Zweck, meine siebzehnjährigen Kameraden, sobald ich wieder unter ihnen weilen würde, an unsern ziemlich häufigen Kneipabenden mit meinen Versen zu unterhalten.“ [KSA 1/II, S. 1584]“
könntenSchreibversehen, statt: könnten wir.
natürlich aber nicht brauchen.
Dein Brief an Emilienicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Emilie Scherer, 1.1.1878. mit der Aufschrift „Einst angebetesSchreibversehen (möglicherweise von Wedekind), statt: angebetetes. – Das Gedicht ist nicht ermittelt. Kind“ existirt noch, überhaupt haben
die Mädels an der ganzen Geschichte die größte Freude gehabt & wenn die
Alte auch ein wenig S/s/chroff aufgetreten ist, so musst Du das nicht
übel aufnehmen. Also wie gesagt man dürstet hier zu Hause nach Wedekindischen
Producten & zweifle ich nicht daran, | daß die Erinnerung an die schönen
Tage Dich bestimmen wird uns bald etwas zukommen zu lassen.
Wenn Du etwa m. Bitte nicht
begreifst, so bitte ich Dich mir sie ja nicht übel aufzunehmen, etwas Schlimmes
steckt nicht dahinter.
M. Adresse
F. R.
cf adr. Mr. Schärer-Bauner
Beauregard No 1.
Genève
Indem ich Dir schon zum Voraus bestens danke,
grüße ich Dich herzlichst
Friz
Rauber v/g
FassBier- oder Kneipname Fritz Raubers. |
Franklin
Wedekind