PrivatzeugnißIn einem Begleitschreiben an Frank Wedekinds Vater heißt es: „Sie erhalten beiliegend mein Privatzeugniß, das länger ausfiel als ich selbst, wünschte, aber auch nicht kürzer gefaßt werden konnte, wenn es den gewünschten Zweck erreichen sollte. Er lautet so günstig als sich’s nur immer mit meiner Überzeugung u. m. Gewissen vertrug.“ [Johann Friedrich Rauchenstein an Friedrich Wilhelm Wedekind, 18.4.1881].
Dem Kantonsschüler Franklin Wedekind, welcher während zwei JahrenAm 1.5.1879 war Frank Wedekind Schüler der Kantonsschule Aarau geworden, nachdem er die Aufnahmeprüfungen am 28. und 29.4.1879 erfolgreich bestanden hatte. Er besuchte im Schuljahr 1879/80 die I. Klasse des Gymnasiums, im Schuljahr 1880/81 die II. Klasse. das hiesige Gymnasium besuchte und bis zu seinem Austritt aus der IIten
KlaßeWie das Zeugnis dokumentiert (Übergabe am 14.4.1881) war Frank Wedekind nicht in die III. Klasse versetzt (promoviert) worden. Johann Friedrich Rauchenstein hatte den Vater seines Zöglings über die Ursachen schon eine Woche zuvor informiert: „Wie ich gestern Abend vernommen habe, wurde Franklin auch nicht provisorisch in die III Klasse promoviert, weil besonders in der Geschichte u. im Griechischen+ die schriftlichen Prüfungsarbeiten ganz ungenügend ausfielen. Gerade im letzteren Fache hatte ich Fr. mehr Zeit u. Mühe gewidmet als irgend einem der früheren Pensionäre. Aber operam et oleum perdici: seine grenzenlose Faulheit, Gleichgültigkeit u. die jeder profunden Entwicklung, u. Disciplinirung im Wege stehende | Fantasterei spottete jeder Bemühung, ihm gründliches Wissen beizubringen. Nicht weil es ihm an Gedächtniß sondern an Interesse fehlte, vergaß er von einem Tag auf den andern, den ich wiederholt u. mit aller Geduld ihm beigebracht hatte. Die HH. Fisch u. Leupold, mit welchen ich redete, klagten besonders über den völligen Mangel an Aufmerksamkeit u. Theilnahme, u. während Armin bei Letzterem die Note „sehr gut“ erhielt, mußte der zur Milde geneigte Lehrer ihm nach Fleiß u. Leistungen die Note 5 geben.“ [Johann Friedrich Rauchenstein an Friedrich Wilhelm Wedekind, 8.4.1881, in: Mü, Nachlass Frank Wedekind, FW B 156]
Für seine Leistungen erhielt er (auf einer Notenskala von 1 bis 5) in Deutsch und Religion die Note 2, im militärischen Unterricht und Kunstzeichnen 2-3, in Latein, Naturgeschichte und Gesang 3, Französisch und Mathematik 3-4, Griechisch und Turnen 4, Geschichte 5. Sein Fleiß wurde in Griechisch und Gesang etwas besser als das Fachliche, in Latein mit 2-4 beurteilt, im Übrigen stimmten die Noten überein. Zusätzlich wurde angemerkt, dass im Naturgeschichte-Unterricht „sein Betragen nicht ohne Tadel“ gewesen wäre und er im Turnen „wieder einige Stunden versäumt“ hätte [vgl. Aargauische Kantonsschule Gymnasium. Zeugnissheft für Franklin Wedekind. II. Klasse 4. Quartal 1880/81, in: Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170]. im Hause des
UnterzeichnetenFrank Wedekind wohnte während der Schuljahre 1879/80 und 1880/81 gemeinsam mit seinem älteren Bruder Armin in der Familie des ehemaligen Kantonsschullehrers Professor Friedrich Rauchensteins in Aarau, Halden Nr. 261 [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau, S. 17f.]. war, wird auf den Wunsch des Vaters, Herrn Dr. Wedekind auf Schloß Lenzburg nach
Wißen u. Gewißen folgendes Zeugniß ertheilt:
In sittlicher Beziehung gab er der FamilieNeben den Pensionseltern – Johann Friedrich Rauchenstein war in zweiter Ehe (seit 1852) mit Sophie Pfleger verheiratet –waren vermutlich auch weitere Pensionsschüler, zu denen auch Frank Wedekinds Bruder Armin gehörte, inbegriffen. Die Kinder des Ehepaars dürften dagegen längst das Elternhaus verlassen haben, der jüngste Sohn, Hans Rauchenstein, Freund von Armin Wedekind, hielt sich zum Studium in Zürich auf [vgl. Matrikeledition der Universität Zürich 1833-1924, Nr. 6048]. gegenüber nie zu einer Klage Anlaß,
sondern erwarb | sich durch anständiges Betragen und durch sein offenes u.
freundliches Wesen unsere Zufriedenheit u. Liebe. Dagegen verstand er es noch
zu wenig seine Zeit u. die ihm eigenen reichen Gaben so anzuwenden, daß ein
sicheres und gründliches Wissen dadurch ermöglicht wurde, während er anderseits
nach dem Urtheile s. LehrerWedekinds Lehrer im Schuljahr 1780/81 waren: Dr. Goswin Karl Uphues (Deutsch), Dr. Franz Fröhlich (Latein), Karl Fisch (Griechisch), Prof. Jakob Hunziker (Französisch), Rudolf Wernly (Religion), Edward Leupold (Geschichte), Dr. Hermann Krippendorf (Mathematik), Friedrich Mühlberg (Naturgeschichte, Zoologie), Max Wolfinger (Kunstzeichnen), Josef Burgmeier (Gesang), Heinrich Wäffler (Turnen), Alfred Roth (Militärunterricht). an Reife des Urtheils u. Verstandes vor seinen Mitschülern
sich auszeichnete. An diesem Mangel praecisen Wißens hatte nach meiner
Überzeugung seine mehr als gewöhnliche Begabung u. Neigung zu poeti|schen Produktionen
die meiste Schuld, weil er sich hierin am fleißigsten übte u. damit über den
mühsamen aber unerläßlichen Schulweg hinwegfliegen zu können hoffte, eine
öffentliche Schule aber auf ein bestimmtes Maß von sichern Kenntnißen halten
muß und die Individualität der Schüler nicht in der Weise berücksichtigen kann,
wie es etwa im Privatunterricht möglich ist.
Wenn mein ehmaliger alumnus(lat.) Zögling. das bedenkt u. den alten Spruch: „Τῆς άρετῆς ἰδρῶτα θεοί προπάροιθεν έθηκαν(griech.) Vor die Trefflichkeit setzten den Schweiß die unsterblichen Götter [Hesiod „Erga“ (Werke und Tage), 289f.].“ mehr
beherzigt, so darf ich ihn seinen zukünftigen LehrerJohann Friedrich Rauchenstein empfahl für seinen ehemaligen Zögling dringend einen Schulwechsel: „Da Fr.[anklin] keinem seiner Mitschüler an Urtheil u. Verstand nachsteht sondern den Meisten eben so überlegen ist als er an tieferem Wesen zurückgeblieben ist, so hilft hier nur eine Versetzung, in eine andere Anstalt oder zu einem Meister, unter dessen beständiger Aufsicht er arbeiten muß. Ich verzweifle auch jetzt noch nicht an ihm, aber meine Mittel sind erschöpft, u. ich muß, so weh es mir thut, Ihnen selbst den Rath geben, ihn von hier wegzunehmen, da ich, wenn er die 2te Klasse wieder durchmachen müßte, die Verantwortung u. Überwachung nicht mehr übernehmen möchte. Vielleicht gedeiht er in einem andern Boden besser.“ [Friedrich Rauchenstein an Friedrich Wilhelm Wedekind, 8.4.1881, in: Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Nachlass Frank Wedekind, FW B 156] Im Begleitbrief zum Zeugnis empfahl Friedrich Rauchenstein noch einmal den Schulwechsel: „Mögen unsere Wünsche für Franklin in Erfüllung u. er auf andern Beeten verpflanzt besser gedeihen u. in jeder Beziehung einmal feste Wurzeln faßen!“ [Friedrich Rauchenstein an Friedrich Wilhelm Wedekind, 18.4.1881]. – Nach Erkundigungen in Burgdorf [Frank Wedekind an Moritz Dürr, 19.4.1881] und Solothurn [Frank Wedekind an Richard Kunz, 6.6.1881] fiel die Wahl auf die Kantonsschule Solothurn, wo sich Frank Wedekind im Sommer 1881 zur Prüfung anmeldete [vgl. Frank Wedekind an Adolph Vögtlin, 5.7.1881] und wegen der dort bevorstehenden Sommerferien abgewiesen wurde. Nach der Gesundung von einer Rippenfellentzündung trat Frank Wedekind zum Herbst 1881 wieder in die II. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau ein [vgl. Frank Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881].n bestens | empfehlen, und er wird dann die auf
ihn gesetzten schönen Hoffnungen gewiß nicht täuschen.
Aarau
17 April 1881
Fr.
Rauchenstein
Prof. em