Salzburg
15.3.14.
Lieber Herr Wedekind!
Heute bekomme ich von meiner Schwester schon eine 2.
AlarmnachrichtIn einem früheren Brief berichtete Friedrich Strindberg von Kerstin Strindbergs Flucht aus München [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 1.2.1914]., Großmama schreibt mir nichts und alle scheinen von einem
Mißverständnis ergriffen zu sein. –
Von Herrn Dehmel erhielt ich einen sehr freundlichen BriefRichard Dehmels Brief ist als Entwurf überliefert [vgl. Dehmel-Archiv der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg DA:Br:S 1886 Anl.] Es ist das Antwortschreiben auf Friedrich Strindbergs Brief vom 1.3.1914, worin er richtiggestellt hatte, dass er nicht August Strindbergs Sohn ist: „Meinen Vater, den Sie vielleicht weniger gut leiden können und etwa nicht gar so gern haben, ist Herr Wedekind“ [Dehmel-Archiv DA:Br:S 1886]. Daneben mokierte er sich über den „endlose[n] Hauptmannsche[n] Elendsreigen vom Jäger der ‚Weber‘ bis zum letzten Sauhirten im ‚Bogen des Odisseus‘.“ [Ebd.] Dehmel ließ in seiner Antwort Grüße an Wedekind bestellen und stellte fest: „Er steht mir trotz all seinem Teufelsviehzeug [gestrichen: Teufelsmenagerie; Teufelsbestien] geistig näher als der göttliche Sauhirte Hauptmann, obgleich ich diesen für keinen Schweinepriester halte.“ [Dehmel-Archiv DA:Br:S 1886 Anl.],
der mich sehr freute; nur wunderte mich, daß er den „göttlichen Sauhirten“Diese häufige Bezeichnung für Eumaios, Schweinehirt und Freund des Odysseus, in Homers „Odyssee“, wird hier auf Gerhart Hauptmann bezogen, der in seinem jüngsten Drama „Der Bogen des Odysseus“ die Hütte des Eumaios als Schauplatz gewählt hatte und wegen seines Umgangs mit der literarischen Vorlage kritisiert worden war, wie Friedrich Strindberg in seinem letzten Brief berichtet hatte [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 1.3.1914].
Hauptmann für keinen „gar so argen Schweinepriester“ halte, ja der ganze Brief
| ist so ähnlich geschrieben, wie ichs mir den alten Goethe etwas
angeheitert vorstelle.
Die PhotographienIm November 1913 hatte sich Friedrich Strindberg eine Porträt-Photographie seines Vaters erbeten [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 7.11.1913]; diesem Wunsch entsprach Wedekind Ende Februar und legte seinem Brief mehrere Photographien bei [vgl. Wedekind an Friedrich Strindberg, 24.2.1914]. von Herrn Wedekind hängen bei mir nun a/i/m Pult, und mein Blick fällt sehr oft erinnernd auf sie,
die h/H/errn
Wedekind sitzend darstellt, ist mir recht ans Herz gewachsen! Auch die lieben Kleinen
schau ich mir oft an!
Hier ist der ganze Frühling recht herzlich, herzig die
Blumen, alles so nett – wenn man sentimental wird ist nur eine logische Folge
all der Frühlingspracht – alles so freundlich, obgleich mir in meinem Innern
hie und da, besonders in den letzten Tagen wegen der verfluchten
Meinungs„missverständnissen“bezieht sich vermutlich erneut auf die eingangs geschilderte „Alarmnachricht“. oft nicht ganz wohl
ist! Aber alles ahtmetSchreibversehen, statt: athmet. hier recht heiteren Lebensmut, Lustigkeit u.
Fröhlichkeit, wie man sie in den | Großstädten zur Zeit des jetztweiligen
Quatschwetters nicht hat!
Wegen Ostern das ganze In u. Aus ist mir ein großes
Fragezeichen, das sich aber vielleicht ausdehnen könnte … da meine sonstigen
Hoffnungen sehr gering
sind, habe ich ja noch von niemand eine sichere Nachricht, außer der, daß wir
von 5.–15. April, (ungefähr) frei haben. Karl Kraus hat eine recht gute neue
„Fackel“nummerdie zuletzt erschienene Nummer der „Fackel“ [vgl. Die Fackel, Jg. 15, Nr. 393/394, 7.3.1914]. herausgegeben, die wirklich Ausgezeichnetes enthält.
Besonders der arme Hugo Salus!! 5 SeitenDer Artikel zu dem dichtenden Arzt Hugo Salus trägt den Titel „Arzt und Künstler“ und umfasst vier Seiten [vgl. Die Fackel, Jg. 15, Nr. 393/394, 7.3.1914, S. 15-18]. sind ihm gewidmet
und werden sie nur halb ernst (sie sind nämlich sehr witzig) genommen, werden, dürfte man Hugo Salus kondulieren. – Auch
kehrt er sich gegen: – die Universität und genauer – gegen die GermanistenIn dem Artikel „Wenn die Lehrkanzel nicht besetzt“ polemisierte Karl Kraus gegen die in der Presse genannten angeblichen Folgen des vakanten Germanistiklehrstuhls von Jakob Minor [vgl. Die Fackel, Jg. 15, Nr. 393/394, 7.3.1914, S. 18-21].!! Das freute mich!! Die
Juden sind wie immer seine ärgsten Feinde, aber das mußte ihn empören, daß die
„N. F. Presse“ ihrem Totschweigen ein Ende machteFriedrich Strindberg referiert hier Kraus’ Artikel „Der 29. Januar“ [Die Fackel, Jg. 15, Nr. 393/394, 7.3.1914, S. 29f.], in dem er sich auf eine Karikatur seiner Person in einer Werbeanzeige einer Firma für Schuhabsätze in der „Neuen Freie Presse“ bezieht [vgl. Neue Freie Presse, Nr. 17755, 29.1.1914, Morgenblatt, S. 9], die ihrerseits eine Reaktion auf eine Kraus-Polemik gegen eine andere Annonce dieser Firma war, in der mit Nietzsche geworben wurde [vgl. Die Fackel, Jg. 15, Nr. 391/392, 21.1.1914, S. 5f.]. Die „Neue Freie Presse“ war das Hauptangriffsziel von Karl Kraus und reagierte darauf damit, ihn in ihrer Berichterstattung zu ignorieren, so dass er triumphierte, über diesen Umweg nun doch in dieser Zeitung genannt zu werden: „Wer seit fünfzehn Jahren sein Personal im redaktionellen wie im administrativen Teil dazu anhält, aufzupassen, daß ein einziger Name nicht durchrutsche, darf über solche Befleckung seines Lebenswerkes schon aufgeregt sein.“ [Die Fackel, Jg. 15, Nr. 393/394, 7.3.1914, S. 30]., denn er erschien als „Kikeriki-Jud“Der „Kikeriki“ war eine seit 1861 erscheinende Wiener Satirezeitschrift, die seit der Jahrhundertwende einen antisemitischen Kurs verfolgte und fortwährend entsprechend stereotype Karikaturen publizierte. Der Ausdruck ist ein Zitat aus dem genannten Kraus-Artikel: „[A]m 29. Januar tanzte bereits ein Kikeriki-Jud, dessen in die Stirn fallende Haare als ein besonderes Merkmal meiner Individualität agnosziert wurde, das Januarheft der Fackel, natürlich eine ‚Doppelnummer‘ in der Hand, auf einem Riesengummiabsatz herum, und darunter war zu lesen: Vernimm die Mär, o Publikum: / Auf ‚Berson‘ tritt Karl Kraus herum!“ [Die Fackel, Jg. 15, Nr. 393/394, 7.3.1914, S. 29]
für eine Schuhabsätzefirma als – o Greuel – Reklam(!!)bild. –
Sonst ist so ziehmlich bei uns alles wohl, nur eine quälende
Ungewißheit wegen den verfluchten Schrecknachrichten meiner Schwester, die
wegen – einer herzigen Geschichte – aus München entwichvgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 1.2.1914., plagt mich etwas,
sonst aber bin ich recht froh und hoffe, daß auch Herr Wedekind recht gesund
sind! Vielleicht wäre es möglich – ich zweifle noch etwas daran – He daß
ich Herrn Wedekind zu Ostern irgendwo treffeDer Ostersonntag fiel auf den 12.4.1914. Friedrich Strindberg besucht Wedekind am Wochenende vor Ostern in München: „Am Abend kommt Friedrich Strindberg.“ [Tb, 4.4.1914]! Ich bin ja in dem Gedanken allein
schon riesig froh.
In Liebe
Friedrich Strindberg.