Besenbüren,
21. Juli 1882.
Mein FreundHermann Huber besuchte seit Frühjahr 1882 die IV., Wedekind die III. Gymnasialklasse der Kantonsschule Aarau. Die ersten beiden Schuljahre (1879/80 und 1880/81) waren sie Klassenkameraden.!
Beatus ille, quiGlücklich ist jener, der fern von den Geschäften weilt. [Horaz, Epoden II, 1]. procul
negotiis! spreche ich ganz
selbstvergnügt während meiner Ferienvon Montag, 17.7.1882 bis Samstag, 12.8.1882 [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1882/83, S. 9].
aus, wenn ich an Dich denke, noch mehr aber an Deine Würdeeinen literarischen Beitrag zu leisten zu einem der bevorstehenden beiden Aarauer Feiern, dem 50 jährigen Jubiläum des eidgenössischen Turnfests (29.7. bis 1.8.1882), zu dem 2000 Gäste erwartet wurden, oder dem aargauischen Kantonalschützenfest (6.8. bis 13.8.1882) [vgl. auch Eduard Leupold an Wedekind, 9.7.1882]. Wedekind war am 15.7.1882 (in Abwesenheit) zum „Cantusmagister“ der Schülerverbindung Industria Aarau gewählt worden [vgl. Haemmerli-Marti 1942, S. 30f.] Am selben Tag hatte er die Sitzung des Empfangskommitees für das eidgenössische Turnfest besucht, dessen Präsident Wedekinds Geschichtslehrer Eduard Leupold war, der auch als Vereinsinspektor den Schülervereinen beratend zur Seite stand [vgl. Chaudhuri 2009, S. 243]. Die Ereignisse dürften zusammenhängen.. Hastig habe ich heute die FestzeitungDie 3. von 12 Nummern des „Festblatt für das aargauische Kantonalschützenfest in Aarau“, das bei R.H. Sauerländer in Aarau erschien (8.6.-22.8.1882). Über das Festblatt meldete die zeitgenössische Presse: „Das Organisationskomite des aargauischen Kantonalschützenfestes hat eine geeignete Redaktion mit der Herausgabe einer Festzeitung beauftragt, welche in zwölf Nummern erscheinen und aus dem vielgestaltigen Festleben die interessanten Momente herausgreifen soll. Die erste Nummer ist schon herausgekommen.“ [Der Bund, Jg. 33, Nr. 161, 13.6.1882, S. (4)] „die Titelvignete der Festzeitung zeigt auch neben dem Aargauer Wappen den preußischen Doppeladler, aber nicht das eidg. Kreuz“ [Der Grütlianer, Jg. 31, Nr. 48, 17.6.1882, S. (3) In der Nummer vom 21.7.1882 wurde über die erfolgreich abgeschlossenen Festvorbereitungen berichtet [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 62, 1882, Nr. 203, 22.7.1882, S. (1)]. ergriffen,
aber nichts von Franclin W. gesehen, sondern nur eine recht langweilige SenfkorngeschichteAm Ende seines historischen Rückblicks schrieb der Aarauer Altpfarrer Emil Zschokke: „Der Verein wuchs aus einem Senfkorn zu einem edeln Blüthenbaume, der seine Äste über beinahe alle Gaue ausbreitet.“ [Die Gründung des Schweizerischen Turnvereins. In: Aargauisches Kantonalschützenfest. Festblatt, Nr. 3, 20.7.1882, S. 14f.] von E. Z. Dagegen hat Hr. A. FreyAdolf Frey, Wedekinds Deutschlehrer, der im Januar 1882 den Ruf für deutsche Sprache und Literatur sowie Griechisch am Gymnasium der Kantonsschule Aarau erhalten hatte. ein ganz heimeliges, gewisse Herzen
ergreifendes Gedicht
eingesandtAdolf Frey: Schützenpreis [vgl. Aargauisches Kantonalschützenfest. Festblatt, Nr. 3, 20.7.1882, S. 15].! Wie oft mag er sehnsüchtig seine Blicke haben schweifen lassen von seiner Bude ausvermutlich nicht in Aarau; die Ausführungen beziehen sich nicht auf das abgedruckte Gedicht. hinaus durch
die Vorstadt bis dorthin, wo ein kühnes MädchenAnspielung auf die Historikerin Dr. Lina Beger, die sich 1882 mit Adolf Frey verlobt hatte und ihn 1883 heiratete. Beide waren 1878 an der Universität Bern promoviert worden, von wo sie zunächst nach Berlin zogen. wohnt, das ihm so wonniglich Milch servirt. Zwar bin ich nicht Rüegg und schreibe keine PlaudereienReinhold Rüegg veröffentlichte seit 1871 in verschiedenen Zeitungs-Feuilletons (zunächst im Winterthurer Wochenblatt „Der Landbote“, später in der Tageszeitung „Züricher Post“) seine „Plaudereien“, die zwischen 1874 und 1928 auch als Sammlungen wiederabgedruckt wurden., jetzt aber
habe ich doch gerne etwas abgeschweift, handelt es sich ja um eine
Herzenssache! Herzlich!
Kommen wir also, wäre gewiß eine schöne Phrase in
einer Turner oder SchützenredeAuf dem eidgenössischen Turnfest wie dem aargauischen Kantonalschützenfest wurden zahlreiche Reden gehalten, von denen einige in den Festzeitungen abgedruckt wurden.,
also zum Ausgangspunkte zurück. | Hätte ich meinen Träumeraufsatz noch nicht
abgegeben, so hätte ich jetzt ergiebigen Stoff. Lebhaft stelle ich mir vor, wie
ein bewürdetes Haupt
jetzt in Hülle und Fülle zu thun hatWedekind schrieb über die Festvorbereitungen das Gedicht „Wie man sich in Aarau auf das eidgenössische Turnfest rüstet“ [KSA 1/I, S. 55-60], dessen Publikation allerdings abgelehnt worden war [vgl. Eduard Leupold, 8.7.1882]. Im „Festblatt für das Eidgenössische Turnfest in Aarau“ (Nr. 1, 30.7.1882, S. 4) erschien Wedekinds Gedicht „Turnergruß“ [KSA 1/I, S. 60] Ein Beitrag von ihm zum Schützenfest ist nicht ermittelt.. Par exemple(frz.) Zum Beispiel..
Vor Allem schnallt man sich einen schönen corpus
an, läßt sein Ebenbild sich oft zurückwerfen und hocherfreut über die zu
erringenden Siege des Herzens stellt man das unentbehrliche Instrument weg. Ich
seh’ Dich bereits in einem schnurgeraden „Kellnerscheitel“ alle Haare genau
abgezählt nach links und rechts hinunterhangend. Zur Verständigung des Mannes
und des Effektes bedeckt ihn etwa auch der schwarze Frack und die – Comitérosettestilisierte Rose als Verzierung eines Komiteemitglieds; Wedekind hatte am 15.7.die Sitzung des Empfangskomitees des eidgenössischen Turnfestes besucht [vgl. Hämmerli-Marti 1842, S. 31]. Ob er Mitglied des Komitees war, wie der vorliegende Brief Hermann Hubers nahelegt, konnte nicht ermittelt werden..
Ein guter Anfang, Aussicht auf einen Stern! Glückliche Menschen, das gleißt an
der Sonne! So der äußere Mann und seine Hoffnungen! | Der innere Mensch, d. h.
dessen Geist ist aber nicht minder beschäftigt.
„Ich kann nicht umhin, Ihnen“ „ich bedaure, daß“,
„Ich habe die Ehre“ „ich habe das Vergnügen“ „es thut mir sehr
leid“ „Entschuldigen Sie gefälligst“ und ihre Verwandten müssen jetzt geläufig
einstudirt werden, tägliche
Übung schadet vielleicht nichts. Dann folgt die Rede: „Freunde, Brüder,
Eidgenossen, Turner! Unser Wahlspruch lautet:
Frisch, fromm, froh, frei, Aus allen Gauen, herbeiströmen“ um die/er/
Rede den Trumpf zu geben, rathe ich, öfter auch „meine Herren“ erklingen zu
lassen, das tönt.
So, das wäre die Thätigkeit eines gewöhnlichen BrüdermitgliedesVollmitglied der Schülerverbindung Industria Aarau. Wedekind hatte die Aufnahme als Bruder im März 1882 beantragt und gehörte mittlerweile zum Vorstand [vgl. Wedekind an die Industria, 12.3.1882]., an Fr. W. stellt man natürlich ganz andere
Anforderungen, zum Mindesten ein Gedicht. Ich möchte fast bezweifeln, ob Dir
die Ferien einen Turnergeist
eingepflanztMit der Begründung, dass er „zu undiszipliniert“ sei, soll Wedekind die Aufnahme in den Kantonsschülerturnverein (KTV) verweigert worden sein [Haemmerli-Marti 1842, S. 30f.] Nach einer Rippenfellentzündung im Sommer 1881 war er vom Turnunterricht freigestellt [vgl. Aa, DE02/0167/03 (Teil 3 vom 31.10.1881)]. haben und ein
Gedicht aus Deinem Herzen entspringen lassen. |
Aber das thut ja nichts zur Sache, wenn’s nur
schön ist! wird stellt
sich ja auch der liebe
Herrgott oft zur rechten Zeit zum Reime bei einem – frommen Dichter ein. Wenn’s
nur klingt, die Welt hat keine Augen!
Immerhin muß es eine edle Beschäftigung eines
Comitémitgliedes sein! – –
Erlaube, daß ich Dich auch mit einigen Nachrichten
von mir langweile. Ich übersetze eifrig aus dem Italienischen und bin bald fertig, so daß
mein Geldbeutel oft voller Freuden aufjukt(schweiz.) aufhüpft., wenn er in der Hoffnung ist, bald zu empfangen.
Wie recht von Herzen gönne ich ihm’s! Nebenbei lese ich etwas Shakespeare
und mache Excursionen für die geologische KarteDie Kartierung seiner Heimat (Besenbüren), die Hermann Huber während der Sommerferien vornahm, dürfte durch den Schulunterricht im Fach Naturgeschichte an der Kantonsschule Aarau angeregt worden sein. „Vorbegriffe der Geologie. Erörterung der geologischen Verhältnisse der Umgegend.“ [Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Jahr 1882/83, S. 17] standen im Lehrplan für die IV. Klasse. Der Fachlehrer Friedrich Mühlberg, einer der bekanntesten Geologen seiner Zeit, unterrichtete praxisorientiert und unternahm mit seinen Schülern zahlreichen Exkursionen insbesondere in die Umgebung. Mühlberg selbst hat zahlreiche geologische Karten der Schweiz erstellt., ein fein Vergnügen! – Dann wird in der nächsten Woche
der Aufsatz begonnennicht ermittelt. und die –
Grundsteinlegung zum neuen
DramaDie Schauspiele Hermann Hubers sind nicht überliefert. Wie Dir schon gesagt, werde ich mir die
Freiheit nehmen, Dich während der Ferien einmal
zu besuchen d. h. zum Besuch abzuholen. ./. Forts. Seite. 5. |
Was machen Deine lbenSchreibversehen, statt: lieben. VereinsgenossenMitglieder der Schülerverbindung Industria Aarau waren Joseph Stocker aus der III. Klasse sowie Wedekinds Klassenkameraden aus der II. Klasse Albert Irniger, Samuel Schaffner [vgl. Haemmerli-Marti 1942, S. 31] und Johann Otto Wullschleger, der auch der Helvetia philosophia angehörte [vgl. Moriz Sutermeister an Wedekind, 3.2.1883 u. 3.3.1883; Chaudhuri 2009, S. 107 u.a].?
BierburgerBierbürger; die bei einer Kneipe anwesenden Verbindungsmitglieder und Gäste., fidèlSchreibversehen, statt: fidèle (frz.) zuverlässig, getreu., originell tönts aus
allen Kehlen! Welche Zukunft. Verzeihe mir meine Excursion(lat.) hier: Abschweifung.!
Als ich den Brief noch einmal durchlas fiel mir
auf, daß das Herz so eine große Rolle spielt. Offenbar hat mich der Brief,
den ich letzthin empfangenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Hermann Huber, 18.7.1882.n, verleitet, dieses Wort so oft zu
brauchen: Denn jener hatte mich herzlich gefreut! (Antwort auf das „Ständchennicht ermittelt; möglicherweise gab die zu Beginn des Briefes erwähnte „Würde“ Wedekinds Anlass zu dem Ständchen.“.)
Dir alles Vergnügen wünschend,
hoffe ich Dich einmal zu treffen
und grüße Dich mit
collegial. Gruße
(und (Turner) Handschlag
Hermann Huber IV
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