Kennung: 2904

Straßburg, 19. April 1883 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Huber, Hermann

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Strassburg, den 19ten April 1883.


Lieber Franklin!

Von einem Tadel, dass Du mir die Ehre des Abschiedes in Aarau nicht schenktest, will ich abstehen; denn der Freund hat Dir andere wichtigere und erquicklichre Mittheilungen zu machen.

Erlaube mir, Dir einen ausführlichen Bericht über meine Hieherreise und hiesigen Aufenthalt zu erstatten. Wie ich Dir in einer Correspondenzcartevgl. Hermann Huber an Wedekind, 15.4.1883. von Hause aus bemerkt, war ich genöthigt am Montag um 9/10/ Uhr schon nach Aarau zu reisen, damit ich nicht – wie man mir drohte – in die Hände der Polizei geriethe.

Mirabile dictu!(lat.) gesprochene Wunder. Am 14. April erhielt ich vom Kommandanten das Aufgebot am 13ten April zur RecrutirungEinberufung zur 5- bis 6-wöchigen Rekrutenschule. zu erscheinen – eine Zumuthung, die man gewiss einem Studenten, der nicht in mathematicis studirt nicht wohl stellen darf; nun das Ende des Liedes ist, dass ich ein Jahr Urlaub erhalten habe. |

In Aarau, wo ich den Lenzburger Franklin immer sehnlichst erwartete, musstSchreibversehen, statt: musste. ich warten bis 11.03Am Aarauer Bahnhof fuhr um 11.03 der Zug nach Olten [(Fahrtenplan vom 15.10.1882), vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 244, 14.10.1882, S. (3)], von wo Hermann Huber – einen weiteren Umstieg in Basel einlegend – nach Straßburg gelangen konnte., dann endlich – hob sich meine Brust, das Herz schlug höher – adieu tausendmal adieu du altes Nest, in dem für mich keine Freude; aber Verdruss und Abmühung mit Kleinigkeitskrämerei gebrütet wurde. Adieu, zu Gott! Aarau – wol/mög/e er Dich segnen – Du aber neue Musenstadt sei gegrüsst! Möge mir Dein Schoos mehr Liebe und Freude bieten, als meines Vaterlandes Stadt! Und Du, erhabener Münsterthurm, zu dem ich jetzt emporblicke, der Du das Erste bist, das ich am Morgen erblicke wann ich aufstehe – Du bist mir ein treuer Mahner, meinem Vorsatze überall und immer nach dem Erhabenen zu streben, dem geistigen Schlamme auszuweichen, treu zu bleiben. Ja, Franklin, ich bitte Dich, lassen wir uns diesen Grundsatz mit Herzblut auf unser | Schild geschrieben sein /!/ Dich flehe ich inständig darum an; denn Du bist nunmehr in Aarau allein ein grüner Stamm im dürren Walde – Steige nicht in den Sumpf hinab, je weiter Du eindringst, um so tiefer arbeitest Du Dich, bis am Ende Du Dich nicht mehr zu erheben vermagst. Du verstehst wohl, was für einen Sumpf ich meine – nicht den geistigen – nicht den, welchen die Kneipen bilden. Hier, lieber Freund, bleib’ fröhlich und heiter, freue Dich am Bier, an den schönen Mädchen. Wir sind nur einmal jung und diese einmalige Jugend wollen in festen grossen Zügen geniessen?/./ Was kümmert mich heute das Alter?

Der Freude bin ich bis jetzt nachgegangen, mit allem dem Raffinement, das mir – wie Du weisst – eigen ist – wollte ich sie geniessen; aber in Strassburg ist die Farbe der Freude nicht – roth; wie sie ist, ist mir bis anhin noch nicht bekannt. Und doch – ich spreche zu einem Freunde – | habe ich in der Absicht, ein VergnügunshausSchreibversehen, statt: Vergnügungshaus – ein Bordell. – nicht zum Gebrauch, sondern zur vorläufigen Orientierung – zu finden grosse Gassen, mittlere Strassen – besonders aber die engsten Dunkelgässchen – ich glaube alle – durchwandert; Nirgends winkte mir CytherensCythere; Bezeichnung für die Liebesgöttin Aphrodite, die nach der griechischen Mythologie auf Zypern (Cythera) aus Meerschaum entstanden sein soll. Arm! Ich darf wohl sagen, dass ich in 12 Brasserien etc., die rothe Laternenfrüher Hinweis auf ein Bordell. ir/o/berhalb des Einganges haben, gewesen bin – nirgends wollte mir Venuslateinische Bezeichnung für die Liebesgöttin Aphrodite. einen Genuss bieten; jedoch hat mein juristisch-politisch-phantatischSchreibversehen, statt: phantastisch.-praktischer Sinn – ich denke ziemlich richtig bemerkt – dass es nicht schwer halten dürfte ein Privatvergnügungsmädchen zu bekommen – amtlich beglaubigte Lustmädchen – die Philister heissen die Menschen Dirnen – habe ich keine gefunden. Dass in Strassburg es Orte giebt, wo sich die Natur und M das Leben des Mannes und des Weibes sich vereinigend der Mensch | die Weltlust durch [de] seine Adern angenehm fliessen lassen kann, ist unzweifelhaft.

Doch kehre ich aus den aetherischen Höhen d.h. dem Inbegriff der menschlichen Existenz zurück und auf die abgeflachte Welt, wo die, welche die Wahrheit sagen entweder verabscheut oder verhöhnt werden – sage ich Dir mit Aarauer Ausdrücken, was erhabener Worte nicht mehr fähig ist. Die rothen Laternen sind polizeilich allen Wirhtschaften geboten. – Meine Bude, ein Prachtding, ist auf dem Münsterplatz, gerade vis-à-vis dem Dome, eine herrlichere Lage kann man in ganz Strassburg nicht finden. Das Essen nehme ich in einem Restaurant ganz in der Nähe zu mir. Immatriculirtvermutlich am 17.4.1883, da Hermann Huber an diesem Tag Bücher aus der Universitätsbibliothek auslieh. Amtlich dokumentiert ist seine Einschreibung (Jura) für den 27.4.1883 [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Sommer-Halbjahr 1883, S, 25; gleichlautend im Amtlichen Verzeichnis für das Winter-Halbjahr 1883/84, S. 25]. bin ich bereits und mit diesem Act endlich geworden, was schon so lange meine Sehnsucht war – Student.

Sei doch so gut und schreibe SchiblerWedekind hat den Auftrag Hermann Hubers ausgeführt [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 20.4.1883]., ich lasse ihn bitten, mir besagte Recepte sofort zu schicken (meine Adresse lege bei) Brief an ihn werde sogleich nach Empfang erfolgen. Von Dir erwarte ich bald | Antwort. (NB. Die Antigone oraculaGemeint sein dürfte ein Schulbuch für die IV. Klasse des Gymnasiums, in die Wedekind vor Ferienbeginn (14.4.1883) versetzt worden war. Im Lehrplan des 6-stündigen Griechischunterrichts bei Isidor Guttentag war die Beschäftigung mit dem Thebanischen Sagenkreis durch den Tragödiendichter Sophokles und dessen Dramen „Antigone“ und „Ödipus auf Kolonos“ vorgesehen, in denen der Tochter des Ödipus eine herausragende Rolle zukommt. Zum Unterrichtsstoff ist zu lesen: „Sophokles, Antigone, Oedip. Colon. Chor 668-720, Einleitung: Leben des Soph.[okles]“ [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule für das Schuljahr 1883/84, S. 21]. soll Dir Rohr aus meiner KlasseFriedrich Rohr gehörte, wie Hermann Huber, zu den ehemaligen Klassenkameraden Wedekinds in den Schuljahren 1879/80 und 1880/81. geben.)

In alter Treue
Dein
Hermann Huber stud


pr Ad. Herr J. StrittHermann Huber wohnte zur Untermiete bei Drechslermeister Josef Stritt [vgl. Adressbuch der Stadt Strassburg 1882, Teil I, S. 63 u. 310].
Münsterplatz 6 Strassburg.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Kariertes Papier. 2 Doppelblätter. Seitenmaß 13,5 x 21 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Straßburg
    19. April 1883 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Straßburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 75
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Hermann Huber an Frank Wedekind, 19.4.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

16.03.2023 13:10