Strassburg, den 26/4/ten
April 1883.
Mein Freund!
Mein Herz ist voll, ich muss es ausschütten, Wem gegenüber
soll ich entleeren als Dir lieber Franklin? Wenn es mich auch schmerzlich berührt
von Dir noch keine NachrichtWedekind hatte dem Schulfreund, der am 16.4.zum Studium nach Straßburg gezogen war, auf die vorangegangenen drei Korrespondenzstücke vom 15., 16. und 19.4.1882 nicht geantwortet.
empfangen zu haben – ich kann nicht mehr warten, ich muss meinem Freunde mein
Herz öffnen. –
Als mein Sinn noch nüchtern war, nicht so
aufgeregt wie jetzt, dachte ich Dir aus meinem Tagebuch die Notizen abzuschreiben,
aber ich kann es nicht, ein ander Mal, Du sollst Alles wissen und wie viel
gienge verloren vom Kopf durch den Arm, die Hand, die Feder, das Tagebuch bis zurück
wiederum zum Postpapier!
Endlich hat mir Cytherens Arm gewunkenLiebe und Lust; Cythere ist eine andere Bezeichnung für die Liebesgöttin Aphrodite, die nach der griechischen Mythologie auf Zypern (Cythera) aus Meerschaum entstanden sein soll.. Am Morgen um 11 Uhr bummle
ich durch die Stadt, da ruft mir ein schönes, blutjunges Mädchen: Mein Herr,
wollen Sie nicht eintreten? Ich trete ein. Und fürwahr! welch’ eine Gestalt,
nicht anders habe ich mir die Medicäische
Venusantike Statue einer Venus pudica (schamhaften Liebesgöttin) in der Villa Medici in Rom nach dem Vorbild der Aphrodite von Knidos. vorgestellt. Am ganzen Körper die Wellenlinien | zum oval-runden
Ganzen zusammen fliessend und verschlungen – ein schöneres Kunstwerk der Natur
wäre meine Phantasie hervorzuzaubern nicht im Stande gewesen. Sie lächelstSchreibversehen, statt: lächelt., sie neigt sich zu
mir nieder, der auf dem kanapee sitzend diese Gottheit anstaunt, sie bittet,
sie fleht mich an, sie
eine Röthe ergiesst sich über ihre Wangen, sie
tritt zurück, sie wendet sich ab, scheint zu schmollen, wieder wendet sie sich
gegen mich, die über die Hüfte herabwallenden goldgelben Locken umspielen den
Körper, sie bittet f/b/lickt mich bittend an – ich betrachte ihre
diese Schönheit, wie sie sich bewegt und was ruft diese Bewegung in mir hervor –
Reiz? – – nein,
lieber Franklin, Eckel ergriff mich, Schauder durchfloss meine Glieder! Ich
bezahle ihr Etwas und nehme Abschied!
– – – – – –
Schon seh’ ich Deine Augenbrauen sich
zusammenziehen und hör Dich rufen: | Ein gefühlloser Mensch! Nein, nenne mich
nicht so, gerade weil ich Gefühl hatte, schauderte es mich; ich war eben nicht
trunken, ich konnte noch denken. Meine Gedanken vereinigten sich mit dem
Gefühle: Eckel, dass dieses junge Blut in dieser dem, in einer andern jenem Manne wolllüstigen Genuss
bereiten soll, Erbarmen aber auch, dass ein solches Mädchen auf solche Art ihr
Dasein zu fristen genöthigt ist. Ich war ganz nüchtern, Herr meiner Gedanken,
wäre ich trunken gewesen, wäre Das Dämmerlicht in’s Zimmer gefallen und hätte
die Umrisse verschwimmen lassen, so hätte ich nicht mehr gefühlt, ich würde
mich ohne Zweifel der bacchantischstenrauschhaftesten, zügellosesten, verzücktesten.
Lust hingegeben und mich wonniglich gefreut haben, von solchen Armen umschlungen
zu sein und an einem solchen Busen zu doesen. – Wohl mir, dass dem nicht so
gewesen, dass mein Geist | nicht verblendet und umnebelt war. Diese Stunde ist
von grossem Einfluss für mich gewesen; denn ich habe mir gelobt, nie mehr ein
Haus, dass zum allgemeinen Gebrauch geöffnet ist zu betreten, und was mehr ist,
die Ehe ist in meinen Augen viel schätzenswerther geworden; die Ehe, die ich früher
für eine staatlich autorisirte Buhlerei hielt – nun nicht mehr – ein Band ist
es, was den Ehebund heiligt – die Liebe. – Doch darüber später. Lieber
Franklin! Ich beabsichtigte durch diese Zeilen nicht, Dich vorSchreibversehen, statt: von. einem ähnlichen
Zusammentreffen abzuhalten, thue es, es wird Dich nie reuen, Du kannst Dir
Lehren für Dein ganzes Leben schöpfen, wenn Du Dir aufrichtig sein,
willst, wirst Du mit mir übereinstimmen.
– – – – – –
Ein anderes Abenteuer, habe ebenfalls gehabt mit einem
Vereine, |
5)
der GermaniaGermania Straßburg, am 30.6.1880 gegründete Burschenschaft mit dem Wahlspruch „Ehre, Freiheit, Vaterland!“ – im Sommersemester 1883 die einzige Straßburger Studentenverbindung [Handbuch für den deutschen Burschenschaftler. Berlin 1892, S. 163, vgl. auch S. 162]., dem einer sehr feinen und angenehmen
Gesellschaft, der ich unbedingt beigetreten wäre, wenn ich Geld und Zeit genug
gehabt hätte. Lege Dir den
Briefvgl. die Beilage., den ich an Sie
mit einigen stilistischen Aenderungen bei, üebergieb ihn meinem BruderHermann Hubers ältester Bruder August arbeitete bis zu seinem Tod als Rechtsanwalt in Lenzburg, wie aus der Presse zu erfahren ist: „In Königsfelden verstarb am 18. Aug. nach längerm Leiden, noch nicht dreißig Jahre alt, Dr. jur· August Huber, gewesener Fürsprecher in Lenzburg.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 64, Nr. 235, Erstes Blatt, 22.8.1884, S. (3)], er soll ihn
nach Hausean die Eltern nach Besenbüren. schicken, da
sie eine
jämmerliche Furcht haben, ich könnte irgendwo beispringen.
Ueber das interessante Gespräch, das ich mit I/i/hnen
geführt in nächsten Briefvgl. den ausführlichen Bericht in Hermann Huber an Wedekind, 28.4.1883.
mehr, wenn Du mir nähmlich die Ehre geben wirst, einige Zeilen zu schreibenvgl. das nicht überlieferte Korrespondenzstück: Wedekind an Hermann Huber, 27.4.1883..
Leb’ wohl mein Freund
vergiss mein nicht
Dein
Hermann Huber
stud
[Beilage:]
Hochgeehrter
Herrvermutlich Oscar Wolf aus Weissenburg im Elsaß (immatrikuliert 2.11.1881 für Jura) oder Karl Wolf aus Mülhausen (immatrikuliert 19.10.1881 für Jura).!
Entschuldigen Sie daß ich mir die Freiheit nehme, an Sie
einige Zeilen zu richten, ich beabsichtigte, Sie zu besuchen, traf Sie aber
nicht zu Hause, deßwegen ziehe ich vor, Ihnen brieflich das ausdrücken, was ich Ihnen zu
sagen gesinnt war.
Auf meinem vierstündigen Morgenbummel nach Offenburg habe ich mir
noch einmal überlegt, ob ich in die Burschenschaft: Germania eintreten wolle oder nicht. Ich
habe alle Gründe dafür und dagegen in Erwägung gezogen und schließlich haben
die Gegengründe die Schale sinken gemacht, bin ich bin nun entschlossen
nicht beizutreten.
Fürwahr, Sie kenne ich gestehe es Ihnen
offen, verhehle es Ihnen nicht – die Gründe für den Eintritt waren viele. Ich will nicht
sprechen von den wahrhaft guten Tendenzen die welche die Burschen
verfolgt, nicht von der Ehre u
dem Ansehen, die mir durch
den Eintritt in Ihrer Bruderschaft, zu Theil würden – die
angenehme und in der That freundliche | Art, mit der
Sie mich überall einzuführen die Güte hatten, wäre für mich entscheidend
gewesen, wenn nicht die Gegengründe als zuSchreibversehen, statt: all zu. triftig gewesen wären.
Dem Verbande hätte ich weder durch meine Persönlichkeit noch
durch den angesehenen Namen meineSchreibversehen, statt: meiner.
Eltern Ehre machen können, – und und den Verein würdig representiren zu
können, das erachte ich durchaus als eine Nothwendigkeit. Ich hätte es auch
nicht gekonnt aus finanziellen Gründen; denn meine Eltern, wenn sie nicht
gerade arm zu nennen sind, haben durch das Studirenlassen dreier SöhneGemeint haben dürfte Hermann Huber sich selbst sowie seine beiden älteren Brüder August, der Jura studiert hatte und Fürsprech (Anwalt) in Lenzburg war, sowie Artur, über dessen Ausbildung nichts ermittelt ist. Der jüngste Bruder Friedrich Huber war gerade 13 Jahre alt geworden. so viele Ausgaben, daß
ich sie unmöglich um mehr belasten kann, als durchaus nothwendig ist. Sie sehen
also, daß ich auf jeden Fall Jemanden zur Last fallen müßte – den Eltern, das
giebt mir mein Gewissen nicht zu, – der Burschenschaft, das erlaubt mir mein Ehrgefühlt
nicht. Den Verlust empfinde ich wohl, Schließlich
aber bekanntlich muß man sich nach der Deecke strecken. |
Schließlich bitte ich Sie, mir meine Freiheit, an Sie zu schreiben, zu vergeben, zugleich Ihren werthen Herren
Commilitonen meinen
besten Dank für das freundl.Entgegenkommen darzubringen & mir auch nun nicht zu zürnen, sondern auch fürderhin Ihre verdankenswerthe liebe
Zuneigung zu
bewahren. Ihnen, Herr Wolf, meinen großen
Dank für Ihre Offenheit und ich glaube, daß Sie aus diesem Briefe ersehen, daß ich offen und wahr Ihnen gegenüber bin. Dies möge zugleich
an eine Entschuldigung für d. Brief
sein.
Mit colleg. Gruße
Ihr
Hermann Huber stud