Lieber Walther,
eben schreibt mir HeiligerHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben des Rechtsanwalts in Hannover, der mit der Nachlassverwaltung der verstorbenen Tante betraut war (die schon in früheren Briefen thematisierte langwierige Erbschaftsangelegenheit); erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Heiliger an Wedekind, 15.3.1900., daß vor zwei Monaten
nicht an Vertheilung der Erbschaft zu denken sei. Soweit wäre ja alles gut. Wer
läßt sich das aber träumen, wenn der Mann unsere Unterschriften verlangtvermutlich in den Unterlagen, die Wedekind am 19.1.1900 erhalten hatte [Hans Heiliger an Wedekind, 18.1.1900; vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 20.1.1900]. Bei den verlangten Unterschriften handelte es sich um Garantieerklärungen gegenüber den Ansprüchen möglicher weiterer Erben [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 14.5.1900]., damit
die Vertheilung nicht 9 Monate hinausgeschobenals Wartefrist vermutlich abgeleitet aus § 1923 des Bürgerlichen Gesetzbuches, der regelt, wer erbberechtigt ist: „Erbe kann nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt. Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits erzeugt war, gilt als vor dem Erbfalle geboren.“ [Das Erbrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Systematisch dargestellt und durch Formulare erläutert von Jacob Boehm. Hannover 1896, S. 302] zu werden brauche sondern gleich
erfolgen könne. Ohne dies Wort hätte ich natürlich noch nicht so rasch darauf
gerechnet. Darf ich dir nun folgenden Vorschlag machen. Meine Geschäfte gehen
gut; ich verdiene soviel Geld daß nicht eine sondern zwei Familien davon leben
könnten. Für die Monate April und Mai habe ich jetzt schon 600 M. ausstehenvermutlich weiteres Honorar für den Fortsetzungsabdruck der „Münchner Scenen“ („Marquis von Keith“) in der Monatsschrift „Die Insel“ – Wedekind hatte bereits 400 Mark Honorar für die erste Folge erhalten [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 15.3.1900]., die absolut
sicher sind. Nun | habe ich schon auf der FestungWedekind verbüßte vom 21.9.1899 bis 3.2.1900 eine Haftstrafe wegen Majestätsbeleidigung auf der Festung Königstein. ernstlich daran gedacht,
meine Schulden bei Mieze, die ich auf 3-4000 M. veranschlage allmählig zu amortisireneine Schuld tilgen.. Ich würde
gerne beim Empfang der Erbschaft mit einer kleinen Summe damit den
Anfang machen; ich schlage 500 M. vor. Dann würde ich doch aber ersuchen, mir aus der Sackgasse zu
helfen, in die ich in diesem Hotel geraten bin damit ich die 200 M.Albert Langen hatte Wedekind eine Abschlagszahlung von 200 Mark angeboten, wenn Wedekind ihm im Gegenzug einen Schuldschein über 1600 Mark unterzeichnet [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 15.3.1900]. nicht zu nehmen brauche,
die mir Langen momentan bietet. D. h. natürlich wenn du es kannst. Sonst
aber glaube ich damit einen Vorschlag zu machen, der uns beiden convenierenzusagen, gefallen.
kann. Ich gewinne 1600 M. damit, und Mieze wird mit Vergnügen ersehen, daß das Geld, mit dem sie
mich unterstützte in keiner Weise hinausgeworfen war. Ich habe schon ein
bescheidenes Zimmer in SchwabingWedekind war seit dem 22.3.1900 in der Franz-Josephstraße 42, 2. Stock, gemeldet [vgl. EWK/PMB Wedekind]. in Aussicht genommen, das ich für die zwei
oder | drei MonateEntgegen diesen Plänen wohnte Wedekind in der Schwabinger Wohnung bis 1906. beziehen werde. Ich werde mehr und ruhiger arbeiten können
und weniger Geld brauchen. Denn bei diesem Hotel- Café- und Straßenleben
verbrauche ich ein Heidengeld ohne auch nur die geringste Bequemlichkeit dafür
zu haben. Dazu kommt elektrisches LichtWedekinds Münchner Hotel, der Bamberger Hof (Neuhauserstraße 25-28), hob in seinen Zeitungsannoncen ausdrücklich hervor: „Elektrisches Licht und Central-Heizung im ganzen Hause“ [Münchener Ratschkathl, Jg. 8, Nr. 46, 6.6.1896, S. (4)]. Die 200 neu eingerichteten Zimmer waren ab 1,50 Mark erhältlich., das mir die Augen blendet,
Tingeltangel-MusikDer Bamberger Hof veranstaltete regelmäßig „Theater-Variété“ in einem Veranstaltungssaal, „1000 Personen fassend“ [Internationale illustrierte Athleten-Zeitung, Jg. 2, Nr. 38, 24.9.1893, S. 8]., Luftheizung; ich versuchte in den letzten Tagen Gedichte
für die JugendIn der Münchner Zeitschrift „Jugend“ erschien erstmals 1901 ein Gedicht von Wedekind – das bereits in der Sammlung „Die Jahreszeiten“ (1897) publizierte „Ilse“ [Jugend, Jg. 6, Heft 49, 1901, S. 817]. zu machen, die mir sofort baar Geld gebracht hätten, bin aber so
nervös, daß mir nichts gelingt; ich bin absolut nicht Herr meiner Stimmung, was
vielleicht auch in meinem Brief von heute Morgenvgl. Wedekind an Walther Oschwald, 15.3.1900. zum Ausdruck kam, und was mir
dann sehr leid thäte; aber das sind die Folgen der Ungewißheit ob man morgen
oder übermorgen 10,000 M.Diese Summe erwartete Wedekind offenbar aus dem Erbe seiner Tante Auguste Bansen. in der Hand hat oder nicht.
Bei alledem fürchte ich allerdings, daß dich
Donald mit in ähnlicher Weise bestürmt. Aber
die Billigkeit meines Vorschlages wird niemand in Frage ziehen. Im schlimmsten |
Fall würden mir auch 100 M. die Übersiedlung ermöglichen. Es handelt sich bei mir nicht um
Geldverlegenheit, denn ich kann jeden Moment Geld von Langen haben; es handelt
sich aber um die Rettung meiner Einkünfte in Höhe von 1600 M. Eben habe ich den
Kammersänger an Fischer in Berlin, den Verleger Gerhart HauptmannsHauptmanns Werke erschienen seit 1890 bei S. Fischer in Berlin. geschicktHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zur genannten Buchsendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Samuel Fischer, 16.3.1900. ;
dadurch komme ich als Autor in die beste Gesellschaft. Wenn ich dagegen den
Contract unterzeichne, den mir Langen vorlegt, ist mir diese Operation
unmöglich gemacht und bin ich wieder auf lange Zeit an den Schurken gefesselt.
Ich bitte dich, mir bald zu antworten, wie es
auch sei. Ich kann mir ja denken, daß dir die Sache eventuell einfach unmöglich
ist.
Mit herzlichen Grüßen
Dein Frank.
Hotel
Bamberger Hof
16. März 1900.