Strassburg, 22ten Juli 1883.
Mein Freund!
Ob ich Dich so nennen darf – ob Du mir zürnest –
ob Du in Deiner Grossmut mich etwas bändigen willst, in guter väterlicher
Absicht, irgend einen Fehler, der mir anhaftet, mich lebhaft ha fühlen
zu f/l/assen, um mich dadurch zu bessern – ich vermag es nicht zu
ergründen, nicht in den Abgrund Deiner Gedanken zu tauchen, ich bin ganz
verblüfft und stehe da und staune und versuche – nicht am Sternenhimmel die Zeichen der Gottheit zu entziffern,
nein, ich versuche mir klar zu werden, worin ich mich vergangen gegen Dich,
dass Du mir keine Nachricht von DirWedekind war die Antworten auf mehrere Briefe seines Freundes schuldig geblieben. Zuletzt hatte er vor etwa zwei Monaten geschrieben [vgl. das erschlossene Korrespondenzstück: Wedekind an Hermann Huber, 18.5.1883]. zukommen lässt. Aber vergebens peinige ich
mein armes Gehirn si/n/achsinnend | k nicht eine Ahnung einer Schuld
berunruhigt mein Gewissen; und sollte
es sein, dass Schuld auf mir lastest, keine Rachegöttinnenin der griechischen Mythologie die drei Erinnyen Alekto (die Unaufhörliche), Tisiphone (die Vergeltung) und Megaira (der neidische Zorn). sins tummeln sich hier in
Strassburg herum, die schaudererregend durch ihre Geistergestalt den sündigen Menschen
an sein Vergehen mahnen – unsere Göttinnen, die nachtwandeln sind harmloserer
Art – – In Griechenland liegt Strassburg nicht, das weiss man auch in Lenzburg auf dem Schloss, und wenn auch
die Phantasie dort sich bis auf die höchsten Höhen zu schwingen erlaubt, soweit
kann sie doch nicht gehen in ihren Täuschungen, dass sie meint, im lichten
Strassburg wisse man, was sie dunkel schaut – nein, da Du keine ErinnerungenVerschleifung. aus deinen
lichten | HöhenWedekind wohnte an schulfreien Tagen, es waren Sommerferien, auf Schloss Lenzburg, das oberhalb des Ortes Lenzburg gelegen ist. herabsenden kannst, so steige doch hinab in das Städtchen und
schiebe eine Postcarte in den
Briefeinwurf, sie thut den nämlichen Dienst wie ein Rachegeist! Ja, sie klärt
mich besser auf. + Ein
Strahl aber soll In Anlehnung an den Spruch: „Laß einen Strahl, nur einen Strahl / Von dir ausgehen, welcher meine Zweifel aufkläre.“ [Die Heilige Helena an der Schädelstäte, ein geistlich Gespräch, welches in der Königl. Chur-Fürstl. Hof-Capelle zu Dreßden am heiligen Abend vor Ostern soll aufgeführet werden. 1746. (o. P.)ausgehen von Dir, damit er leuchte in das Dunkel meines
Herzens und mich
erkennenVerschleifung. lasse, worin ich gefehlt. –––
Ich habe seit Deinem letzten Briefevgl. das erschlossene Korrespondenzstück: Wedekind an Hermann Huber, 18.5.1883. schon so manche Antwortder vorliegende Brief war wenigstens das dritte Schreiben Hermann Hubers auf Wedekinds letzten Brief. abgehen lassen, dass es mir
nachgerade unmöglich ist, mich zu entrinnen, wie grosseSchreibversehen, statt: erinnern, wie groß. die Zahl derselben ist; dessen erinnere ich
mich jedoch lebhaft, dass ich in allen Tonarten Dich zu einer Antwort zu bewegen versuchte – vergebens! Da ich zum ersten mal, da als ich eine List anwandteHermann Huber hatte seine Erfahrungen mit einer jungen Prostituierten in Straßburg dem Freund in zwei differenten Geschichten geschildert [vgl. Hermann Huber an Wedekind, 19.4.1883 und 24.4.1883]., so übel weggekommen bin, so
glaubte ich, mich eines Kunstgriffes z nicht mehr bedienen
zu dürfen, zumal |
ich die in Wahrheit allerdings unrichtige Ueberzeugung hatte, einen Kniff zu gebrauchen sei unnöthig; quapropter(lat.) deshalb. versuchte ich es
durch einen Appell an Deine Ehre – aber meine RufSchreibversehen, statt: mein Ruf. verhallte im Wald ohne dass ein Echo mir
entgegentönte weder ein freudigesVerschleifung.
noch ein betrübendes – Geisterstille ist es geblieben. –––
Wisse nun aber, dass ich mich länger hinhalten zu
lassen nicht gesonnen bin; ich mochte Dich auf jede Weise zu entschuldigen; schrieb
an Jemandenvermutlich der gemeinsame Freund Samuel Schaffner, der mit Wedekind die IV Klasse der Kantonsschule Aarau besuchte., ob Du
krank seist, ob verreist, ob gestorben nichts von alle dem – fröhlich wälzest
Du Deine löbliche Haut eingedenk des dolce fare nient(ital.) süßen Nichtstuns.e im grünen Rasen und verschluckst mit grossem
Behagen Bier, Wein und andere zum Leben nothwendige |
II.
Erzeugnisse der gütigen Erde. Darum beneide ich
Dich nicht, bewahre! ich freue mich über Dein Wohlbefinden; allein seltsam
mutet es mich doch an dass Du
keine Stunde findest, mir meine
Briefe zu beantworten, obwohl Du ganz wohl weisst, dass Du mir meinen
sehnlichsten Wunsch erfüllen und mich erfreuen fr würdest – dass Du es
lediglich aus Trägheit (ja nicht Grobheit, wie konnte sich ein solcher Weltmann einer solchen
schuldig machen!) unterlässt, das – offen gestanden – betrübt mich sehr. –
Das Sommer SemesterHermann Huber studierte im ersten Semester Jura an der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg. geht mit dem 11ten August zu
Ende, ich reise aber schon am 2. oder 3. von hier weg, um bei günstigem Wetter
zu Fuss über den Schwarzwald
.//. |
heimzukehren. – Mein Franklin, grosse Erfahrungen
habe ich gemacht in dieser kurzen Zeit, jetzt schon freue ich mich, sie einem
Manne, einem Freunde mittheilen zu koennen, der mit Verständniss meine Beobachtungen erfassen, erkennen
und würdigen kann – dieser Freund bist Du, wenn es mit vergönnt ist, während
der Ferien Dich öfter zu sehen, wenn ...... – ich will diese Bedingung treffend
unterdrücken. –
Schibler wird die Maturität bestandenOskar Schibler, der im Herbst 1881 an die Kantonsschule Solothurn gewechselt war, bestand dort im Sommer 1883 die Matura. haben; ich lasse ihm Glück
wünschen und erwarte ihn hier als commilito(lat.) Mitsoldat, Mitstudent. | begrüssen zu
dürfen; ich wollte ich könnte mit ihm bei den nämlichen Professoren die
Institution hören; er soll nach
Strassburg kommenOskar Schibler wurde am 14.12.1883 an der Universität Straßburg für Jura immatrikuliert [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg für das Sommer-Halbjahr 1884, S. 34]., wenn er etwas zu arbeiten und ausgezeichnete Vorträge
zu halten hören gedenkt. Wenn er einen Bericht über die Vorlesungen
wünscht, soll er mir schreiben, ich werde ihm einen besorgen; er soll ihn nicht
bestellen, sonst muss er 2. Frs. dafür bezahlen.
So lebe denn wohl, ich erwarte umgehend einen Brief, wenn ich nicht
denken soll, Du werdest von nun an meine Freundschaft verschmähen.
Mit freudl. Grüssen
Dein
Hermann Huber studiusfür studiosus: Student. |
Bitte mich zu entschuldigen, massen ich sehr Eile
hatte.