Lieber Walther,
du schreibst mirnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Walther Oschwald an Wedekind, 28.5.1900. „dagegen habe ich die
Wahrnehmung gemacht daß du von solchen Sachenzu der sich in die Länge ziehenden Erbschaftsangelegenheit siehe die vorangehende Korrespondenz Wedekinds mit seinem Schwager Walther Oschwald seit dem 6.1.1900. wirklich erstaunlich wenig
verstehst.“ – Darin magst du recht haben obschon ich mit dem besten Willen
nicht finden kann daß dein Verständnis dieser Sachen zur Beschleunigung der
Geschäfte wesentlich beigetragen habe. Hätte ich vor zwei Monaten in meiner
Verständnislosigkeit nicht endlich Lärm geschlagenHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben Wedekinds an den Nachlassverwalter Hans Heiliger; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Hans Heiliger, 5.4.1900., dann wäre Heiliger
wahrscheinlich noch bis heute durch „Überbürdung | mit Arbeiten“ daran
gehindert gewesen, sich mit unserer Angelegenheit zu befassen.
Ich schicke dir anliegend die beiden
Mittheilungen Heiligersnicht überliefert; erschlossene Korrespondenzstücke: Hans Heiliger an Wedekind, 6.4.1900 und 15.5.1900. Von der irrtümlichen Behauptung Walther Oschwalds, Wedekind sei getauft, hat Wedekind aus einem nicht überlieferten Schreiben Hans Heiligers vom 6.4.1900 erfahren, das am 18.4.1900 verspätet bei ihm eintraf und das er vermutlich sofort beantwortete [vgl. Wedekind an Hans Heiliger, 19.4.1900]. Vier Wochen später hat er darauf anscheinend noch keine Antwort erhalten [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 14.5.1900], die aber am 15.5.1900 geschrieben und kurz darauf eingetroffen sein dürfte sowie wahrscheinlich Wedekinds Kontaktaufnahme mit der Stadtverwaltung in Aarau (nicht überliefert) veranlasste [vgl. Wedekind an die Stadtverwaltung Aarau, 17.5.1900]. in der Taufangelegenheit. Aus diesen Mittheilungen
ergiebt sich: Entweder hat Mama die Unwahrheit gesagt, oder Du hast die Unwahrheit
gesagt oder Heiliger hat hat gelogen. Die ersten beiden Fälle
sind ausgeschlossen und der dritte hat ist Ursache daß die Abwicklung um
6 Wochen verzögert wurde.
Du schreibst mir: „Weder ich noch sie (Mama)
können dafür wenn Heiliger meine Briefe nicht liest“ – | Ja, zum Hencker noch
mal! So viel verstehe ich denn doch von solchen Sah/c/hen, daß es
Heiligers verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, deine Briefe zu lesen,
da er sich von unserem Gelde für seine Thätigkeit bezahlt macht! Soviel
verstehe ich doch von solchen Sachen daß es ein Nicht-Lesen von Briefen
im Geschäftsverkehr nicht giebt! Daß Du die Pflicht und Schuldigkeit
hast, sobald ein Brief von dir nicht gelesen wird, sofort ganz andere
Saiten aufzuziehen. Ich mag ein völliger Ignorant in
Geschäftsangelegenheiten sein, aber das ist mir
doch noch nicht passiert, daß ein Brief von mir nicht gelesen worden ist! |
Ich werde keine Bitte mehr an Dich richten. Ich
werde die Angelegenheit meiner Verständnislosigkeit entsprechend von heute ab
zum Biegen oder Brechen bringen. Vielleicht verstehe ich mich in dieser Verständnislosigkeit
auf den Typus „Heiliger“ aber doch etwas besser als Du, indem ich Heiliger für
nicht um ein Haar schlechter und durchtriebener halte als jeden anderen
Geschäftsmann sondern sein Verhalten durchaus normal und zweckentsprechend
finde.
Was das „Histörchenvermutlich eine Publikation Donald Wedekinds in einer Schweizer Zeitung; nicht ermittelt.“ betrifft, so finde ich es
wie Du gemein von Donald so etwas aus Rache in die Welt zu setzen. Aber
laß Dir den Witz selber doch nicht zu sehr zu Herzen | gehen. Er ist so
schrecklich billig und liegt so furchtbar nah. Hätte ihn Donald nicht gef/r/issen,
dann hätten sich hundert Andere dafür gefunden. Hoffentlich gelangt er nicht in
die Deutsche Presse. Aber wenn auch, was wird nicht alles in der
Öffentlichkeit gedruckt! Es vergehen keine vierzehn Tage ohne daß nicht in
irgend einer Zeitschrift schwarz auf weiß gedruckt oder angedeutet steht, ich
sei Päderastzeitgenössisch nicht nur für Knabenschänder, sondern auch für Homosexueller [vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 300]. Ein Beispiel für Wedekinds Beobachtung findet sich in Oscar Panizzas Zeitschrift „Zürcher Diskuszionen“: „Der Schluß: du bist ein Päderast, ergo sind deine Verse schlecht! fält heute platt zu Boden. Wir brauchen heute nur Namen wie Oskar Wilde, Paul Verlaine, Frank Wedekind, Max Dauthendey, George Rodenbach, die alle teils rein homosexuale Tipen, teils sujets mixtes, darstellen, zu nennen“ [Zürcher Diskuszionen, Jg. 2, Nr. 16-17, 1899, S. 1]. oder noch was schlimmres. Wenn ich mich um derartige Insinuationen
kümmern wollte, hätte ich viel zu thun. Ich habe von jeher dem Prinzip
gehuldigt, alles Gemeine und Niederträchtige, was die Zeitungen über | mich
schreiben, zu ignoriren und nur zu bemerken, was sie Gutes und Schönes über
mich zu sagen haben. Dieses Prinzip möchte ich Dir auch anempfehlen.
Mit herzlichem Gruß
Dein
Frank.
München 29. Mai 1900.
Franz Josefstraße 42.II.