MÜNCHENER
LESEINSTITUT
THEATINERSTRASSE 45/I
TELEFON 3573.
MÜNCHEN, 14 II 05
Mein lieber Frank!
Seit 8 TagenAm 6.2.1905 notierte Wedekind im Tagebuch: „Nachts in der Torggelstube mit Anna Langheinrich Dreßler Lotte Eichler, Scharf.“ sehe ich Dich nicht
mehr, und bin vor Sehnsucht krank. Ich wage es nicht, in Deine Wohnung zu
kommen, aus Angst Dich zu stören, und Nachts kann ich doch auch nicht allein
ausziehen, um Dich in Deinem StammlokalWedekinds Münchner Stammlokale, die er häufiger mit Anna von Seidlitz aufsuchte (siehe unten), waren zu dieser Zeit das Weinlokal Zur Torggelstube (Platzl 8) und das Café de l’Opera (Maximilianstraße 40). zu suchen. Den guten EichlerDer Zeichner und Maler Max Eichler, der auch Wedekind porträtierte [vgl. Tb, 1.6.1904 und 17.9.1904], war zu dieser Zeit dem Tagebuch zufolge regelmäßig an Wedekinds abendlichen Kneipenrunden beteiligt – so am 17.1.1905 („Mit Anna von Seidlitz, Blei und Eichler im Café de l’Opéra“), am 26.1.1905 („Dann mit Eichler, Anna v. Seidlitz und Dreßler in der Torggelstube“), am 1.2.1905 („Dann mit Dreßler Eichler Langheinrich und Anna Torggelstube“), am 3.2.1905 („Mit Gerhäuser Anna v. Seidlitz und Eichler bis 5 Uhr im Café de l´Opéra“), am 6.2.1905 („Nachts in der Torggelstube mit Anna Langheinrich Dreßler Lotte Eichler, Scharf“)., der mir als Schleppdampfer so gute
Dienste leistete, habe ich ad acta(lat.) zu den Akten; für etwas ablegen, abschließen. legen müssen, und Stricksder Kabarettist und Sänger Hans Strick, Mitglied der Elf Scharfrichter, und dessen Frau, die Komponistin Fay Böndel. mag | ich mich
auch nicht beständig anschließen. Erbarme Dich doch meiner armen Seele im
Fegefeuer und sag mir wie und wo ich Dich sehn kann. Du bist doch mein Mann, der Einzige, Unvergleichliche,
Deine Verachtung bringt mich um. Du weißt doch, daß ich Alles vermeiden will,
was Dic/r/h mißfallen könnte, sollte ich Dich früher beleidigt
haben, so verzeihe es mir, nur sei gütig gegen mich, komm wieder einmal zu mir,
oder schreib mir wo ich Dich treffen kann. Darf ich | Dich zu Sonntag Mittag (2
Uhr) einladen? Sternersder britisch-amerikanische Lithograph und Maler Albert Sterner und seine Frau Marie Sterner (St. Paulsplatz 3) [vgl. Adreßbuch von München 1906, Teil I, S. 549]. Werke von Albert Sterner waren 1905 auf der 9. Internationalen Kunstausstellung im Münchner Glaspalast zu sehen [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 58, Nr. 388, 22.8.1905, Vorabendblatt, S. 1]. Außerdem bot er in seinem Münchner Atelier an: „Mal- und Zeichen-Unterricht, Illustration etc. unter Korrektur von Albert Sterner, instructs a limited class in painting, drawing, illustration. Aufnahme / apply Mozartstraße 3/4, Nachmittags 4-5 Uhr.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 58, Nr. 501, 26.10.1905, General-Anzeiger, S. 4], meine amerikanischen Freunde,
kommen, wahrscheinlich auch meine Verwandtennicht ermittelt.. Ich bitte Dich, süßer Frank, verachte mich nicht, weil
ich bei Dir geschlafen habe. Stoße mich nicht von Dir zurück, nicht jetzt, wo
es mir so schlecht geht. Wenn ich Dir als Geliebte nicht genüge, so bleibe
wenigstens mein Freund. Ich glaube, wenn du mir nur zuweilen die Hand reichen könntest, so
würde ich Alles ruhig ertragen können. Es mehren sich die Anzeichen, daß meine
Befürchtungen im NovemberAm 19.11.1904 notierte Wedekind im Tagebuch: „Anna theilt mir mit daß sie guter Hoffnung ist.“ Und am Tag darauf: „Anna bestätigt mir die Thatsache daß sie guter Hoffnung sei.“ [Tb, 20.11.1904] nicht unbegründet waren. Wie soll ich diese Zeit
überstehen ohne Dich, ich bin vollständig direktionslosrichtungslos.. Zuweilen kommt es mir
vor wie ein unerhörtes Glück, für das ich Dir danken
möchte, und dann wieder packt mich eine Verzweiflung, eine kalte Angst: was
soll werden? Dann kommen mir alle erhabenen Ideen über uneheliche Kinder und
PhilistermoralSpießermoral. wie leere Worte vor, die ganze Bohèmeunbürgerliches Künstlermilieu. in die ich mich gestürzt
habe, wie ein
gräßlicher Traum – aus dem man erwacht mit einem großen Kater und einem kleinen
Kind. Ja ich muß schließen, sei nicht böse, daß ich Dich mit meinen
Angelegenheiten belästige, ich weiß wohl, für Dich kommt | in erster Linie
Deine Kunst, und dann nach langem Zwischenraum erst Deine | menschlichen
Beziehungen. Laß mich unter diesen einen bescheidenen
Platz einnehmen, so bin ich glücklich. Anna