Schloss Lenzburg 13. NovOct.
81.
Lieber Freund,
Nun bin ich von Schaffhausen zurückgekeht/rt, wo ich einige sehr
glückliche Tage verlebteIn Schaffhausen wohnte seit dem Frühjahr 1881 Olga Plümacher, Wedekinds philosophische Tante, mit ihren Kindern Hermann und Dagmar [vgl. [Hermann Plümacher an Wedekind, 23.4.1881]..
Bei bester Unterhaltung und unerschöpflichen Bierkrügen wurde uns die Zeit so
kurz, dass sie fast in das theoretisch nur einmalige Zeitmoment Kant’s„Die Momente der Zeit scheinen sich nicht zu folgen, weil auf diese Weise noch eine andere Zeit für die Folge der Momente vorausgesetzt werden müßte; vielmehr scheint das Wirkliche vermittelst der sinnlichen Anschauung wie vermittelst einer stetigen Reihe von Momenten herabzusteigen“ [Immanuel Kant: De Mundi Sensibilis (1770). In: Immanuel Kant’s Sämmtliche Werke hrsg. (und übersetzt) von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert. Bd. 5. Leipzig 1839, S. 120 Anm.; zitiert nach Rudolf Eisler: Kant-Lexikon (https://www.textlog.de/eisler/kant-lexikon/zeit)]. zurücktrat. Wie verflossen Dir, l. Oskar, diese 8 Tageseit Mitte der ersten Herbstferienwoche.? – Wenn sie Dir
nicht so schnell verflossen, wie mir, so glaube ich nicht mehr an eine Zeitausdehnungkontrovers diskutierte Problematik der Kantischen Theorie von Raum und Zeit.. – Über Deine jetzigen
Verhältnisse hab ich von Armin
erfahren was ich erfahren konnte. Soll ich bemitleiden, oder glücklich preisen?
– Du wirst mir diese Zweifel lösen. Du gehst nach SolothurnOskar Schibler verließ die Kantonsschule Aarau und besuchte ab Herbst 1881 die Kantonsschule Solothurn. Das Schuljahr dauerte dort vom 15.10. bis zum 15.8. des Folgejahres [vgl. Reglement für die Kantonsschule (Vom 10. Oktober 1874), in: Amtliche Sammlung der Gesetze und Verordnungen des eidgenössischen Standes Solothurn. Bd. 57, 1871-75, Nr. 85, S. 299, §31].. – O, könnt ich doch auch mit! Aber es soll nicht seinWedekind, der ein halbes Jahr Privatunterricht auf Schloss Lenzburg erhalten hatte, kehrte nach Ende der Herbstferien an die Kantonsschule Aarau zurück und wiederholte hier das zweite Schulhalbjahr der II. Gymnasialklasse.. Das
Schicksal ist hart. Es will mich noch tiefer stürzen. Ich muss Dich noch einmal
sehen bevor d/D/u von dannen ziehst, aber es geht nicht hier in Lenzburg. So will ich
denn, falls es Dir Recht ist, morgen,
Freitagden 14.10.1881. Nachmittags nach Aarau kommen. Eine Stunde im RynikerPintenwirtschaft des Friedrich Ryniker in der Metzgergasse 102 [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau. Aarau 1881, S. 8]. hinter einem grossen TopfSchüler- und Studentensprache: Bierkrug. kann uns auf
viele Jahre der Trennung hin fest verbinden. Mit frohem Herzen werd ich nach
dieser glücklichen | Stunde wieder in die Heimath zurückkehren um von goldener
Erinnerung zu leben. Sollte aber diese Zusammenkunft durch irgend einen Zufall
vereitelt werden, so sag ich Dir mit diesem Briefe Ade und wünsche Dir alles
Gute, was Erde und Himmel hervorbringen. – Es wird Dich befremden, dass ich
Dich nicht zu mir einlade; Aber die ganze Familie ist noch mit der WeinleseZum Schloss Lenzburg gehörte ein Weinberg von 6 Juchart [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 286], etwa 1800-2400 Quadratmeter. beschäftigt, deren nicht
gerade glänzender Ertrag die Gemüther Aller und zumal meines Vaters bedeutend
verstimmt. Dazu haben wir noch seit einigen Tagen Kinder von zürcher Bekanntennicht identifiziert. zu bBesuch,
welche auch wegen ihres geringen Alters die Gemüthlichkeit einigermassen
beeinträchtigen. – Morgen Nachmittag um ein Uhr werde ich also Dich in Aarau
aufsuchen. Wenn es Dir irgendwie nicht recht ist, so bring heute Abend nocht
eine Karte auf die Post, damit ich morgen früh Antwort habe. Nun leb wohl auf
Wiedersehn. Dein
treuer Freund
Franklin Wedekind.
Eritis
sicut Deus, Scientes malum et bonum.(lat.) Ihr werdet sein wie Gott, wenn ihr das Böse und Gute erkennt. Wedekind vertauscht „bonum“ und „malum“ in diesem berühmten Bibelspruch (1. Mose 3,5), den Mephisto in Goethes „Faust I“ einem Schüler ins Stammbuch schreibt [vgl. Goethes Werke (WA), Bd. 14, S. 95 = V. 2048].
Du kennst nun Beides.