Schloß
Lenzburg, 24.X.82.
Lieber Freund,
Heute vor 8 Tagen erfuhr ich zu meinem großen Schrecken, daß Du Aarau verlassen habest und wiederum Deiner alma mater(lat) nährende Mutter; studentensprachlich für Gymnasium, Universität – hier die Kantonsschule Solothurn. zugesteuert seiest. Ich wußte noch nicht einmal, daß Dein KriegsdienstOskar Schibler dürfte in den Schulferien die sechswöchige Rekrutenschule in Aarau besucht haben. zu Ende war, als mich diese Hiobspostnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Oskar Schibler an Wedekind, 17.10.1882. traf.
Da es uns
nun also nicht vergönnt war, einander mündlich unsere Herzen mit all’ den Steinen und Lasten
darauf auszuschütten, so sehe ich mich genöthigt, | zu Tinte und Feder zu
greifen, um unsere auf dem letzten Loch zu pfeifen scheinende Correspondenz
wieder zu beleben. Thu also auch Du Dein Möglichstes, um dem/n/
ehmaligen lebhaften Briefwechsel wieder energisch auf die Beine zu helfen.
Sähest du jetzt deinen Franklin
vor Dir stehen, oder säßen wir selbandern(schweiz.) zu zweit.
hinter dem Biertische, so würdest du mit Schmerzen ausrufen: „Herrogott v. Manheime!Redensart (Herr o Gott von Mannheim!); Ausdruck der Verwunderung.,
wie ist mein Franklin verphilistertverspießbürgerlicht.!“ – Ja, ich bin zum Philister geworden; das
glaube mir! Denn die Athmosphäre in Aarau ist drückenSchreibversehen, statt: drückend. und für einen Menschen, der kenn/ine/n
ihm genügenden Umgang findet, gradezu unerträglich. Ich empfand es, | je
tiefer ich in die Trunkenboldenhaftigkeiten der Industria hineingeriethWedekind war seit März 1882 Mitglied der Schülerverbindung Industria Aarau., desto herber, daß in meiner ganzen Umgebung keine
Seele sei ist, die mit mir fühlen, mich
verstehen könnte, ich fühlte, daß alles, was mir lieb und theuer war, mich
verlassen hat.
Welch ein süßer, erquickender Trost war unter solchen
düsteren Gedanken das Bewußtsein, einen Freund zu besitzen. Ich, schwärme nicht gern in sentimentaler, platonische idealer HingebungDer griechische Philosoph Platon unterscheidet 3 Arten der Liebe: agape (die begehrungslose), philia (die freundschaftliche), eros (die begehrende, erotische). Wedekind dürfte sich hier auf eine sich in der Epoche der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert entwickelnde Rezeptionslinie beziehen, in der zwischen einer auf das Sinnlich-Körperliche reduzierten und einer geistig-seelischen (platonischen) als einzig wahrer Liebe unterschieden wurde.,
aber detnnoch glaube halte ich, daß Freundschaft für das Edele/s/te ist, dessen eine Menschenseele
fähig ist. Wer könnte wol die Liebe zum Weibe darüber stellen! Ist sie denn
etwas anderes, als nur die von der Natur errichtete Brücke, über welche wir in
das | schönere Jenseits, in das Paradies der Freundesliebe eintreten S/s/ollen;
er fällt und zerrt/hrt/ die sexuelle Liebe nicht, als
eitle Sinnlichkeit, sei/ich/ selbst Du auf durch den dem Genusse
auf dem Fuße folgenden Ekel, wenn sie nicht im Stande ist, uns in jenes Elisium(Elysium) griechische Mythologie: Insel der Seligen. zu leiten, wenn sie uns nicht zur wahren Freundschaft verhelfen
kann?!
Verzeih mir, lieber Oskar, diese philosophisch-moralische
Auseinandersetzung, welche eigentlich gar nicht hierher gehört. Ich wollte Dir
nur Folgendes sagen: Unsere Freundschaft steht am Abgrunde des
Verderbens. Wir haben bei unseren letzten Zusammenkünften regelmäßig in |
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Heine
Wie steht es mit Deiner Muse? Reitest du öfters noch den Pegasusdas Dichterross.? – Bitte, laß mir
doch etwas von Deinen Neugeborenen zukommen! – Wenn wir uns das nächste Mal
treffen, wirst Du wiederum den freien Menschen, nicht mehr das Präsidium einer IndustriaZum Vorsitzenden (Praesidium oder Praeses) der Schülerverbindung Industria Aarau wurde Wedekind am 9.6.1882 gewählt, am 30.10.1882 trat er von seinem Vorstandsposten zurück und kehrte der Schülerverbindung ganz den Rücken [vgl. Wedekind an die Industria, 30.10.1882]. Erst im März hatte er seinen Aufnahmeantrag gestellt [vgl. Wedekind an die Industria, 12.3.1882], woraufhin er am 14.3.1882 in den Verein aufgenommen worden war. in
mir sehen/n/. Ich gedenke mich von dieser Last zu befreien; sie wird mir
unerträglich. Will’s
Gott, so besuche ich Dich das im nächsten |
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Gestern träumte mir von Dir, dafür heute ein Brief.
Frage nicht, was mir träumte. Träume
sind schau Schäume.Redewendung, die in der Korrespondenz zwischen Wedekind und Oskar Schibler häufig Verwendung findet. Immerhin edamus, bibamus, cras moriemur!lat. Sprichwort: Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot! – Was man geliebt, das läßt sich
nicht vergessen. – Verachte die Welt und denke an mich! – Wir wollen ihr trö/o/tzen;
lache sie dann über uns! – Genießen wir doch dasjenige, was sie
im Jenseitz/s/ zu erblicken hofft. Bleibe selbständig! – Solltest
du dich wieder verliebenAnspielung auf Oskar Schiblers Affäre mit einer verheirateten Frau („E. v. B.“) im Herbst 1882.
wollen, so denke daran, daß das Weib nur eine MaschineMotiv in E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“. ist, die du nur aufgezogen zu werden braucht, um abzulaufen. – Mich schauderts!
– Ade! – In alter t/T/reue
Dein
einsamesr Franklin.