Kennung: 4087

Solothurn, 8. November 1882 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Schibler, Oskar

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

8 Nov. 82.


Lieber Freund!

Dein Briefvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 24.10.1882. hat mich gewissermassen aus einer Lethargie wach gerufen. Du hast vollkommen recht mit deinem Vorwurf, dass meine BriefeHinweis auf ein nicht überliefertes Korrespondenzstück: Oskar Schibler an Wedekind, 17.10.1882. nicht mehr denjenigen entsprechen, welche ich dir früher geschickt habe. Wer soll mir aber hieran der Kantonsschule Solothurn, die Oskar Schibler seit Oktober 1881 besuchte. irgend welche Anregung geben das gewöhnliche Alltagsleben zu vergessen & mich nur ein wenig hinaufzuschwingen in jene Höhe welche man nur einmal & in der Jugendzeit geniesst. | Glaube mir ich bin in dem nämlichen Falle wie du. Einsam & verlassen stehe ich da, finde nichteinmalSchreibversehen, statt: nicht einmal. Befriedigung in der Arbeit & doch die bevorstehende MaturitätOskar Schibler besuchte die Abschlussklasse des Gymnasiums; die Maturaprüfungen fanden im Sommer 1883 statt. heisst mich alle Kräfte anspannen. Mein Pegasusin der griech. Mythologie das geflügelte Pferd, hier: das Dichterross. ist bereits zu einem Ackergaul herabgesunken, der sich als Gelegenheits & Zwangs gaul gebrauchen lässt z. B. bei Gelegenheit der HochzeitAm 6.11.1882 waren Oskar Schiblers Stiefschwester Emma Keller („von Wöschnau“) und der in Zofingen ansässige Kaufmann Eduard Carl Franz Bäumle („von Basel“) miteinander getraut worden [vgl. Aargauer Nachrichten, Jg. 28, Nr. 269, 13.11.1882, S. (2)]. meiner Schwester carmen nuptiale(lat.) Hochzeitslied., das allerdings wie es scheint gefallen hat; der Bischof HerzogEduard Herzog wurde 1876 auf der christkatholischen Nationalsynode in Olten zum ersten christkatholischen Bischof der Schweiz gewählt. gratulirte nur. Ich habe im Sinn meine Aarauer memoirenOskar Schiblers Affäre mit einer verheirateten Frau („E. v. B.“) im Herbst 1882. zu schreiben als große ConfessionOskar Schibler spielt auf Johann Wolfgang Goethes Bekenntnisse „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ an, in Anlehnung an Jean Jaques Rousseaus „Confessiones“. à la Goethe um mir die Scrupeln vom Halse zu wälzen. Du glaubst | & weisst es nicht warum ich von Aarau weggegangen binOskar Schibler hatte, ohne von Wedekind Abschied zu nehmen, Aarau verlassen [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 24.10.1884].. Aber du wirstgestehenSchreibversehen, statt: wirst gestehen. müssen dass ich recht gehabt habe. Ich muss mich aussprechen ich kann es aber nicht in einem Briefe sondern nur vor dir in deiner Gegenwart. O ich habe dies Sclavenleben des Gymnasiums satt man ist gebunden & gekettet gleich einem nach Freiheit ringenden Wesen, das frei sein muss & nur in der Freiheit gedeihen kann. Diese Schranken beengen mich sie erdrücken mich & lassen keine menschenwürdige Regung in mir aufkommen. Ich hab es wie du niemand versteht mich & zu niemand habe ich Vertrauen. | Ich hab es gedacht, dass dich das VereinslebenWedekind, der am 14.3.1882 in die Schülerverbindung Industria Aarau aufgenommen und am 8.6.1882 zu ihrem Präsidenten gewählt worden war, hatte Ende Oktober seinen Rücktritt eingereicht [vgl. Wedekind an die Industria, 30.10.1882]. der IndustrieSchreibversen, statt: Industria. bald anekeln würde. Du beherrschtest alles, hattest niemand der dir opponirte(lat.) eine gegensätzliche Meinung vertreten; in der Schülerverbindung Industria Aarau schrieben die Mitglieder Erörterungen, deren Argumentationen von einem anderen Mitglied in einer der folgenden Vereinssitzungen kritisch hinterfragt wurden. & imponirte(lat.) jemanden mit etwas beeindrucken., du fandest keinen Reiz mehr & der Ekel ist der unausbleibliche Gefährte einer Errungenschaft, die aus der Ferne betrachtet Reiz besitzt wenn man sie aber selbst beherrscht nichts mehr bietet. Das Gymnasiallebenvereinsleben taugt auch für dich nichts mehr denn du stehst über demselben du siehst die Hohlheit & das Theater desselbenvermutlich Anspielung auf die formalisierten Abläufe bei den Trinkgelagen in den Schüler- und Studentenverbindungen. ein besonders da noch ein anderes Ziel winkt & du belächelst es. Es war eine gute Schule Franklin mit grösserem Genusse wirst du die Universität im Kreise verwandter Seelen geniessen/verbringen/unsichere Lesart.

Dein dich sehnlichst erwartender Freund O.


Gruss. Komm!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 10,5 x 17 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brieftext ist um 90 Grad zur Linierung gedreht. Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Endsilben, die hier aufgelöst sind.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Schreibort ist der Schulort Oskar Schiblers angenommen, an den er zum Schuljahresbeginn Mitte Oktober 1882 zurückgekehrt war.

  • Schreibort

    Solothurn
    8. November 1882 (Mittwoch)
    Sicher

  • Absendeort

    Solothurn
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Aarau
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 156
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Oskar Schibler an Frank Wedekind, 8.11.1882. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

19.11.2024 12:32