Solothurn 25. Nov. 1882.
Mein lieber Franklin!
Dein Briefvgl. Wedekind an Oskar Schibler, 25.11.1882.
hat mich sehr interessirt & gefreut. Der Gedanke ist nicht übel & wenn
er richtig realisirt werden könnte jedenfalls von weittragenden Folgen. Immerhin muss man nichts
überstürzen & alles vorher überlegen wie & was man schreiben will.
Offen gestanden könnten die bis jetzt gelieferten ProducteWelche Arbeiten Wedekind für den geplanten Almanach „Osiristempel“ dem Freund zuschickte, ist nicht bekannt. in der geringsten Zahl verwendet werden. Wir
müssten uns in ein ganz neues Gebiet werfen, welches wir bis jetzt noch gar nie
versucht haben. Hast du oder ich schon etwas producirt was das allgemeine
Publicum interessiren würde & wenn ja ist die Form anziehend genug, dass
man es der Kritik darbieten dürfte. Jedenfalls muss der Stoff nicht ein alltäglicher
sein sonst
verschwinden wir sofort wir müssen gleich anfangs durch die Neuheit blenden
& gefangen nehmen & wenn einmal dieser Schritt geglückt ist so haben
wir den rechten Weg gefunden, auf dem wir ans Ziel gelangen. Ich glaube diese
Neuheit wäre gerade im | täglichen Leben zu suchen. Die Leute laufen herum ohne
an ihre Umgebung, Verhältnisse private wie sociale zu denken & wenn wir
einige interessante di/en/ Leuten die Augen öffnende & für sie überraschende
Streiflichter auf das heutige Leben sich beziehende werfen würden so glaube ich wir würde vilSchreibversehen, statt: viel. mehr furore machen als durch irgend eine Novelle
Reisegeschichte Gedichte etc. Ich glaube für meinen Theil, dass sich unsere
Schrift mehr kritisch-philosophisch verhalten soll als unterhaltend. Allerdings
ist eine anziehende Form nicht ausgeschlossen wie auch nicht irgend einmal ein
eingeschobenes interessantes unterhaltendes Stück. Der Leser ist heutzutage so
von Gedichten & Geschichten überschwemt, dass ihn anekelt, man liest Anfang
& Ende & punctum. Indem ich resümire ist dies kurz meine Ansicht: Das Blatt soll 1) heutige
Zustände behandeln:
Religion Staat sociale Fragen Geschichte
Schule Litteratur
natürlich nicht schulmeisterlich vom Katheder herab sondern von unserm
Gesichtspuncte aus, also Aufsätze & 2) Novellen kl. Dramen & Gedichte. |
Etwas ist erwünscht möglichst strenge Kritik & meine
Ansicht ist, dass gegenseitige Kritik die sicherste & beste ist.
Erinnere dich daran wie uns ScherrerGemeint ist der deutsche Kulturhistoriker und Schriftsteller Johannes Scherr, in dessen Werk „Menschliche Tragikomödie“ (1872) die Freunde gemeinsam gelesen hatten [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 10.11.1881]; hier vermutlich eine Verwechselung mit dem österreichischen Germanisten und Goethe-Philologen Wilhelm Scherer. begeisterte. Warum durch die Neuheit
seiner Ideen & seiner Sprache. Lässt sich das nicht nachmachen. Wir sind
jung & junge Köpfe sind noch keine Schablonen welche urtheilen wie die Alten, Wir sind noch Schüler
Stoff genug bietet uns das tägliche Leben in Schule & Haus. Und unsselbst wird dies viel
nützen wir lernen nachdenken, schliessen & kritisiren & folgern. Dies
ist ein eminenter Gewinn.
Indem ich auf deinen Brief zurückkomme so muss ich gestehen, dass über die E v. B. g/G/eschichteOskar Schiblers Affäre mit einer verheirateten Frau im Sommer/Herbst 1882.
sich schwierig Memoiren schreiben lassen. Es gäbe eine Sittenschilderung à la Zolaeine dem Werk Émile Zolas nachempfundene naturalistische Schilderung. & dies passt
sich nicht für ein Blatt, das sich im kl. Kreise bewegen soll. Ich frage dich nun als Freund: Was
soll ich thun. Sie verfolgt mich noch
immer & wenn ich in Aarau
bin so muss ich sie sehen. Sie schreibt mir kündigt mir ein Rendez-vous an
schickt mir Geschenke. Was soll ich thun? Ich kann mich fast nicht losreissen
& doch muss ich’s. Gib mir Rath aber aufrichtig. Du durchsiehst |
unparteiisch die Sache. Offen erfülle die Freundespflicht. Meinem VaterJoseph Keller, dem Stiefvater Oskar Schiblers. musste ich
schon das Ehrenwort geben, abzubrechen & wie ein Dämon heftet siehSchreibversehen, statt: sie. sich an mich. Es
ist ein ungesundes Verhältniss, aber durch die Neuheit für mich reizend.
Ich bin zu Ende. Du hast viel zu antworten sprich deine Ansicht offen aus über
beide Punkte & nimm mir nicht übel, dass ich deinen Plan in der Weise
modificirt habe. Nur auf sicherem Boden & wenn wir wissen was wir
eigentlich wollen kommen wir ans Ziel. Natürlich muss jedes einzelne Projekt
vorher besprochen werden, damit der andere immer weis was geht & wie die
Sache verwirklicht wird. Für uns selbst ist es gewiss anziehender den Verstand
& die Vernunft anzuwenden als die Phantasie, & welche Genugthuung etwas gefunden zu
haben, was bis jetzt noch keiner gedacht hat. Allerdings wird man dies nicht
aus dem Ärmel schütteln können, es wird sich uns nicht darbieten wie die leichten GedankenassoiationenSchreibversehen, statt: Gedankenassociationen. beim
& Reproductionen beim phantasiren wir werden studiren müssen & wenn
etwas klar vor uns liegt muss erst noch ein Gewand gefunden werden, dass es von
aussen wie von innen werth besitzt.
Leb
wohl. Viele Grüsse an
deine Eltern und Armin etc. Dein alter treuer Freund Oskar.