Dez. 5.
82 Solothurn
Lieber Franklin!
Gleichwie ein stolzes Schiff, das leichtgebaut mit kräftigem
Bug, spielend Wind & Wellen durchbra/i/cht & seine fröhlichen
Wimpel in der freien Luft
flattern lässt, gleichsam seiner Aufgabe bewusst, neues suchen zu helfen &
die alten Anschauungen durchbrechend einen eigenen Schauplatz der Thätigkeit
für sich aufzufinden, dann aber herabgewürdigt den Alltagsbedürfnissen, dem
ganz gemeinen zu dienen als Handelsschiff schwerfällig Wind & Wagen(schweiz.) Wogen. zum Spiel, seine
vorgezeichneten Bahnen zu gehen, die Wimpel herabgesunken da kein freier Hauch
sie in der Tiefe der Wagen durchzieht & alles öde & gedrückt schweigend
dahin fährt – so war ich befangen & gedrückt & wie froh, während ich unter dem
hemmenden Gefühle des
Unrechts, ganz verändert gegen früher in düsterem mich selbstverachtendem Sinne
dahinlebte. Ich als unerfahrener, junger & leichtsinniger & waghalsiger
aber nicht schlechter Knabe traf in verhängnissvoller Weise mit einem Weibeine verheiratete Frau in Aarau, mit der Oskar Schibler im Spätsommer 1882 eine Affäre hatte und die in früheren Briefen „E.v.B.“ genannt wird [vgl. zuerst Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882]. zusammen das Sitte
& Anstand & Pflicht verletzte. |
Ich dachte nicht weiter darüber nach & liess mich in das
interessante Verhältniss ein. Ich dachte nichts schlechtes sondern in meinem
abenteuerlichen Sinne & naiv genug an Liebe zu denken während es nur
Leidenschaft war sagte zu ihr: wir wollen fliehen ich will dich ganz besitzen.
Ich nahm sogar Karten & Bücher & studirte Reiserouten Land & Volk.
Egypten hatte ich
auserlesen. Sie hatte etwas anderes im Sinne, sie konnte sich nicht einmal zu der abenteuerlichen Höhe
dieses wilden Planes aufschwingen nein sie suchte nichts als fleischliche Lust.
Und ich zu wenig Stärke besitzend ihr zu wiederstehenSchreibversehen, statt: widerstehen. fiel & die thierische Natur siegte
über die sittliche. Ich wälze jede Schuld dieses Falles
von mir ab. Mein letzter Gedanke ging dahin, nachdem aber einmal der erste
Schritt meinerseits unter Tritten gethan ward wurde die Leidenschaft immer
stärker der Fall immer tiefer. Ich liebte sie nicht. Viel Poesie meiner Jugend
habe ich so leichtsinnig verschleudert, ich sehe es erst jetzt ein. Ich habe den
Menschen von seiner verwerflichsten rohesten Seite kennen gelernt & bin für
diese psychologisch interessante Thatsache, die ich selbst erlebt habe
keineswegs beneidenswerth. |
Dies ist das innere Getriebe der den Aarauern zum Gespräche dienendenDie Affäre war Stadtgespräch geworden, wie Wedekind dem Freund schrieb [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882].
wahrscheinlich sogenannten „Liebesgeschichte“. Sie ist überstanden noch leide
ich & werde vielleicht noch Jahre öffentlich darunter leiden, aber
innerlich will ich mich selbst wieder gewinnen, ich will mich selbst wieder
achten lernen. Es waren unglückselige Zusammentreffen: Schlechtigkeit,
Leichtsinn. Die
einzigen Hilfsmittel die von Erfolg gewesen wären fehlten mir: Kraft &
Vertrauen mich energisch loszumachen. Es gibt kein wahreres Wort als, das eben ist der Fluch der bösen
That, dass sie fortzeugend Böses muss gebärenZitat aus Schillers „Wallenstein. Die Piccolomini“ (5. Aufzug, 1. Auftritt): „Das eben ist der Fluch der bösen That, / Daß sie, fortzeugend, immer Böses muss gebähren.“ [Schillers sämmtliche Schriften, Bd. 12, 1872, S. 188 (= V. 2452f.)].. Mit einer wahren Lust
schreibe ich dies alles nieder, ich finde mich selbst wieder. Mein gerissener
Gemüthszustand sammelt sich & hoffentlich gewinne ich mit der Zeit auch
meinen frühern Frohsinn. Ich habe viel verschuldet gegenüber der Sitte sowohl
derjenigen gegenüber, welche die Welt aufstellt als auch gegen die, welch in jedem EinzelemSchreibversehen, statt: Einzelnen. warnend ruht. Meine Eltern haben manche
schmerzliche Stunde gehabt & ich werde ich verhehle mir dies keineswegs,
noch viele Unannehmlichkeiten desswegen haben. Doch die Hauptsache ist, dass
man | sich selbst wieder gewinnt. Die Selbstachtung ist die Grundlage jeder
Handlung & nur auf dieser kann sich ein Character ausbilden. Ich wünsche
keinem dass er in diesem Alter in solche Versuchungen kommt, denn wie leicht
fällt man. Ich
glaubte dir als meinem Freunde diese Erklärung schuldig zu sein. Lasse bei Beratschlagung
einzig dein Gefühl & Vernunft walten.
Entschuldige, dass ich dich damit so lange aufgehalten aber
was am nächsten liegt muss auch am schnellsten weg gewälzt sein. Vielen Dank für deinen
ausführlichen Brief
den wir jedoch definitiv bei unserer nicht mehr in weiter Ferne stehenden
Zusammenkunft besprechen können. Schicke mir aber immerhin so bald als möglich
die mir zur Disposition stehenden Entwürfe ich will sehen ob mich einer
vielleicht anspornt. Wir haben keine
Ferien hierAn der Kantonsschule Solothurn gab es (nach den Schuljahreszeugnissen) 2 Monate Ferien von Mitte August bis Mitte Oktober und (nach den Halbjahreszeugnissen) 2 Wochen ab Anfang April; dagegen waren an der Kantonsschule Aarau die Ferien aufs Schuljahr verteilt (1 Woche Weihnachtsferien, 2 Wochen nach den Schuljahreszeugnissen ab Mitte April, 4 Wochen Sommerferien und 3 Wochen nach den Halbjahreszeugnissen im Herbst). nur 4 Tage von Samstag vor Neujahrden 30.12.1882. – ein Tag
nach NeujahrDienstag, den 2.1.1883.. Du wirst also ohne Frage einmal einen ganzen Tag nach Aarau kommen. Werde dir
übrigens noch eine Karte
sendenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 17.12.1882.. Wir verkrichen(schweiz.) verkriechen.
uns dann in irgend einer Bierbude und pflegen mit geistanregendem Stoff unsern
Gedankenaustausch. Wenn es dir aber möglich ist mich vorher zu besuchenEin Besuch Wedekinds in Solothurn war im Herbst 1882 wiederholt Thema in der Korrespondenz der Freunde. so komm & du wirst nicht bereuen die alte WengistadtBeiname Solothurns: 1546 kamen Schultheiß Niklaus von Wengi und der Rat der katholischen Stadt Solothurn den verbündeten Städten Le Landeron und Cressier im Fürstentum Neuenburg mit 900 Mann zur Hilfe, als dort die Reformation eingeführt werden sollte [vgl. Urs Vigier: Geschichte des Kantons Solothurn. Solothurn 1878, S. 170f.]. 1533 soll der Katholik Wengi den Ausbruch eines Religionskriegs im Kanton Solothurn verhindert haben, indem er sich vor die Mündung einer schussbereiten Kanone stellend seine Religionsbrüder dazu aufrief, nicht auf die Mitbürger zu schiessen. heimgesucht zu haben,
es gibt auch hierwie in Aarau. viel schönes & anregendes was man verwerthen kannfür den „Osiristempel“, den von den Freunden für das Jahr 1884 geplanten Almanach [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882].. Leb wohl lieber Franklin.
Grüss alles Grüssbare Dein
treuer O.