Kennung: 4121

Solothurn, 5. Dezember 1882 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Schibler, Oskar

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Dez. 5. 82 Solothurn


Lieber Franklin!

Gleichwie ein stolzes Schiff, das leichtgebaut mit kräftigem Bug, spielend Wind & Wellen durchbra/i/cht & seine fröhlichen Wimpel in der freien Luft flattern lässt, gleichsam seiner Aufgabe bewusst, neues suchen zu helfen & die alten Anschauungen durchbrechend einen eigenen Schauplatz der Thätigkeit für sich aufzufinden, dann aber herabgewürdigt den Alltagsbedürfnissen, dem ganz gemeinen zu dienen als Handelsschiff schwerfällig Wind & Wagen(schweiz.) Wogen. zum Spiel, seine vorgezeichneten Bahnen zu gehen, die Wimpel herabgesunken da kein freier Hauch sie in der Tiefe der Wagen durchzieht & alles öde & gedrückt schweigend dahin fährt – so war ich befangen & gedrückt & wie froh, während ich unter dem hemmenden Gefühle des Unrechts, ganz verändert gegen früher in düsterem mich selbstverachtendem Sinne dahinlebte. Ich als unerfahrener, junger & leichtsinniger & waghalsiger aber nicht schlechter Knabe traf in verhängnissvoller Weise mit einem Weibeine verheiratete Frau in Aarau, mit der Oskar Schibler im Spätsommer 1882 eine Affäre hatte und die in früheren Briefen „E.v.B.“ genannt wird [vgl. zuerst Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882]. zusammen das Sitte & Anstand & Pflicht verletzte. |

Ich dachte nicht weiter darüber nach & liess mich in das interessante Verhältniss ein. Ich dachte nichts schlechtes sondern in meinem abenteuerlichen Sinne & naiv genug an Liebe zu denken während es nur Leidenschaft war sagte zu ihr: wir wollen fliehen ich will dich ganz besitzen. Ich nahm sogar Karten & Bücher & studirte Reiserouten Land & Volk. Egypten hatte ich auserlesen. Sie hatte etwas anderes im Sinne, sie konnte sich nicht einmal zu der abenteuerlichen Höhe dieses wilden Planes aufschwingen nein sie suchte nichts als fleischliche Lust. Und ich zu wenig Stärke besitzend ihr zu wiederstehenSchreibversehen, statt: widerstehen. fiel & die thierische Natur siegte über die sittliche. Ich wälze jede Schuld dieses Falles von mir ab. Mein letzter Gedanke ging dahin, nachdem aber einmal der erste Schritt meinerseits unter Tritten gethan ward wurde die Leidenschaft immer stärker der Fall immer tiefer. Ich liebte sie nicht. Viel Poesie meiner Jugend habe ich so leichtsinnig verschleudert, ich sehe es erst jetzt ein. Ich habe den Menschen von seiner verwerflichsten rohesten Seite kennen gelernt & bin für diese psychologisch interessante Thatsache, die ich selbst erlebt habe keineswegs beneidenswerth. |

Dies ist das innere Getriebe der den Aarauern zum Gespräche dienendenDie Affäre war Stadtgespräch geworden, wie Wedekind dem Freund schrieb [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882]. wahrscheinlich sogenannten „Liebesgeschichte“. Sie ist überstanden noch leide ich & werde vielleicht noch Jahre öffentlich darunter leiden, aber innerlich will ich mich selbst wieder gewinnen, ich will mich selbst wieder achten lernen. Es waren unglückselige Zusammentreffen: Schlechtigkeit, Leichtsinn. Die einzigen Hilfsmittel die von Erfolg gewesen wären fehlten mir: Kraft & Vertrauen mich energisch loszumachen. Es gibt kein wahreres Wort als, das eben ist der Fluch der bösen That, dass sie fortzeugend Böses muss gebärenZitat aus Schillers „Wallenstein. Die Piccolomini“ (5. Aufzug, 1. Auftritt): „Das eben ist der Fluch der bösen That, / Daß sie, fortzeugend, immer Böses muss gebähren.“ [Schillers sämmtliche Schriften, Bd. 12, 1872, S. 188 (= V. 2452f.)].. Mit einer wahren Lust schreibe ich dies alles nieder, ich finde mich selbst wieder. Mein gerissener Gemüthszustand sammelt sich & hoffentlich gewinne ich mit der Zeit auch meinen frühern Frohsinn. Ich habe viel verschuldet gegenüber der Sitte sowohl derjenigen gegenüber, welche die Welt aufstellt als auch gegen die, welch in jedem EinzelemSchreibversehen, statt: Einzelnen. warnend ruht. Meine Eltern haben manche schmerzliche Stunde gehabt & ich werde ich verhehle mir dies keineswegs, noch viele Unannehmlichkeiten desswegen haben. Doch die Hauptsache ist, dass man | sich selbst wieder gewinnt. Die Selbstachtung ist die Grundlage jeder Handlung & nur auf dieser kann sich ein Character ausbilden. Ich wünsche keinem dass er in diesem Alter in solche Versuchungen kommt, denn wie leicht fällt man. Ich glaubte dir als meinem Freunde diese Erklärung schuldig zu sein. Lasse bei Beratschlagung einzig dein Gefühl & Vernunft walten.

Entschuldige, dass ich dich damit so lange aufgehalten aber was am nächsten liegt muss auch am schnellsten weg gewälzt sein. Vielen Dank für deinen ausführlichen Brief den wir jedoch definitiv bei unserer nicht mehr in weiter Ferne stehenden Zusammenkunft besprechen können. Schicke mir aber immerhin so bald als möglich die mir zur Disposition stehenden Entwürfe ich will sehen ob mich einer vielleicht anspornt. Wir haben keine Ferien hierAn der Kantonsschule Solothurn gab es (nach den Schuljahreszeugnissen) 2 Monate Ferien von Mitte August bis Mitte Oktober und (nach den Halbjahreszeugnissen) 2 Wochen ab Anfang April; dagegen waren an der Kantonsschule Aarau die Ferien aufs Schuljahr verteilt (1 Woche Weihnachtsferien, 2 Wochen nach den Schuljahreszeugnissen ab Mitte April, 4 Wochen Sommerferien und 3 Wochen nach den Halbjahreszeugnissen im Herbst). nur 4 Tage von Samstag vor Neujahrden 30.12.1882. – ein Tag nach NeujahrDienstag, den 2.1.1883.. Du wirst also ohne Frage einmal einen ganzen Tag nach Aarau kommen. Werde dir übrigens noch eine Karte sendenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 17.12.1882.. Wir verkrichen(schweiz.) verkriechen. uns dann in irgend einer Bierbude und pflegen mit geistanregendem Stoff unsern Gedankenaustausch. Wenn es dir aber möglich ist mich vorher zu besuchenEin Besuch Wedekinds in Solothurn war im Herbst 1882 wiederholt Thema in der Korrespondenz der Freunde. so komm & du wirst nicht bereuen die alte WengistadtBeiname Solothurns: 1546 kamen Schultheiß Niklaus von Wengi und der Rat der katholischen Stadt Solothurn den verbündeten Städten Le Landeron und Cressier im Fürstentum Neuenburg mit 900 Mann zur Hilfe, als dort die Reformation eingeführt werden sollte [vgl. Urs Vigier: Geschichte des Kantons Solothurn. Solothurn 1878, S. 170f.]. 1533 soll der Katholik Wengi den Ausbruch eines Religionskriegs im Kanton Solothurn verhindert haben, indem er sich vor die Mündung einer schussbereiten Kanone stellend seine Religionsbrüder dazu aufrief, nicht auf die Mitbürger zu schiessen. heimgesucht zu haben, es gibt auch hierwie in Aarau. viel schönes & anregendes was man verwerthen kannfür den „Osiristempel“, den von den Freunden für das Jahr 1884 geplanten Almanach [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 11.11.1882].. Leb wohl lieber Franklin. Grüss alles Grüssbare Dein
treuer O.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 17 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Oskar Schibler schrieb Schweizerdeutsch mit häufig verschliffenen Silben, die hier aufgelöst sind. Der Brief ist senkrecht zur Linierung geschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Solothurn
    5. Dezember 1882 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    Solothurn
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 156
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Oskar Schibler an Frank Wedekind, 5.12.1882. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

19.11.2024 12:40