Kennung: 4226

Lenzburg, 25. April 1883 (Mittwoch), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Schibler, Oskar

Inhalt

Schloß Lenzburg, IV. 83.

Mein Bester,

Verzeih mein langes Schweigen. Aber es brauchte geraume Zeit, bis ich von den Strapazen der VergangenheitWedekind dürfte das Lernen für die Schlußprüfungen des Schuljahres 1882/83 und die damit verbundene Anspannung gemeint haben. Bei der Zeugnisvergabe (14.4.1883) wurde er nur „provisorisch“ in die mit der Maturaprüfung endende IV. Klasse versetzt [vgl. Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170]. mich zuerst ausgeruht und mich dann aus dieser Ruhe wieder gesammelt hatte. Letzteres ist noch nicht ganz geschehen, so daß ich vor lauter Geistessterilität | sogar darüber nachdenken muß, was ich meinem Geliebten schreiben soll. Auch mein Pegasusgriech. Mythologie: das geflügelte Pferd; hier das Dichterross. liegt noch auf der Spreu und streckt alle Viere von sich. Wer weiß, ob er sich überhaupt wieder erholt. Es wäre doch eigentlich schade um das treue Thier!

Meine geistige Unterhaltung der/ie/se Ferienvom 16.4. bis 29.4.1883, das war die zweiwöchige Unterrichtspause vor dem Beginn des Schuljahrs 1883/84. über war Heine. Er hat mich ganz gekeilt mit seinen Ideen und seiner s/S/prache. Mit dem Bandeein Band aus einer Heine-Werkausgabe – es könnte sich um „Heinrich Heines sämmtliche Werke“ handeln, die von 1861 bis 1884 in Hamburg bei Hoffmann und Campe erschienen sind; Wedekind schickte ihn am Ende der Ferien zurück [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 28.4.1883]., den Du mir geliehen, bin ich bald zu Ende. Ich werd ihn auch jedenfalls fertig lesen und sollte er darüber in tausend Fetzen gehn. – | Wie? was? – Nein, fürchte nichts. Er trägt einen dauerhaften Überrock von dickem Packpapier, und sieht drunter noch immer aus, wie neugeboren. Hab’ ich ihn so ausgelesen, so sollst Du ihn sofort zurück erhalten und magst dann selbst beurtheilen, ob Du mir vielleicht auch einen zweiten Band anvertrauen darfst. – In dem von mir Gelesenen sind besonders die „Reisebilder“ ganz delicat. Die möcht’ ich dir vor allem zum Lesen anempfehlen.

Von Huber hab’ ich dir viele Grüße auszurichtenvgl. Hermann Huber an Wedekind, 19.4.1883.. Er ist glücklich in Straßburg angelangtHermann Huber, der ehemalige Klassenkamerad Wedekinds und Oskar Schiblers, war am 16.4.1883 zum Studium nach Straßburg gereist und wurde an der dortigen Kaiser-Wilhelms-Universität für Jura immatrikuliert. und stürzte sich | sofort „ins freie Menschen Leben wild hinaus.“/,/ Er durchmaß die Welt auch am Wanderstabefrei zitiert nach Schillers Gedicht „Das Lied von der Glocke“: „Er stürmt ins Leben wild hinaus, / Durchmißt die Welt am Wanderstabe.“ [Schillers sämmtliche Schriften, Teil 11, S. 307]“ wenn auch in etwas speciellerem Sinn, als es Schiller zu verstehen meinen scheint. Nun bittet er michim oben genannten Brief [vgl. Hermann Huber an Wedekind, 19.4.1883]. aber, dir ans Herz zu legen, du möchtest ihm doch ja auf der Stelle Deine Recepte senden. Seine Adresse lautet: H. H. p.a. Herrn J. Stritt, Münsterplatz 6. Straßburg. – Nicht wahr, Du lässest seinen Wanderstab nicht im Stich?! Du warst ja doch sein leuchtendes Vorbild, sein Stern, der ihm den Weg zeigte | zur jungfräulichen Mutter Maria in BettlehemVerballhornung der biblischen Stadt Bethlehem, dem Geburtsort Jesu.! BeiliegendDie Beilage ist hier nicht überliefert; es dürfte sich aber um Original oder Abschrift von Hermann Hubers brieflicher Schilderung seines Besuch bei einer jungen Prostituierten in Straßburg handeln [vgl. Hermann Huber an Wedekind, 24.4.1883]. gab er mir auch noch eine ganz brilliante encyklopedische Beschreibung seiner lieblichen Eintagsfliege, eine Beschreibung, die, in concentrischen Kreisen, gleich den Wellen des Teiches, der einen Stein in sich aufgenommen, immer wieder in ihren Mittelpunkt zurückkehrte und mir demnach ein lebhaftes Bild von „Hermanns erstem DébutSchreibversehen, statt: Début; (frz.) hier: das erste öffentliche Auftreten. gab. gewährte. –––

Diesen Brief begleiten einige Schriften Hubersnicht überliefert., dichSchreibversehen, statt: die. ich Dir übersenden soll. Nicht wahr, Du sendest | sei ihm einige Deine Rezepte als Gegengeschenk?! Schreib’ einige tröstende ermunternde Worte dazu. Er bedarf ihrer in seiner Einsamkeit. –––

Wie ist dir eigentlich unser Bierbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind und Hermann Huber an Oskar Schibler, 11.4.1883. – Möglicherweise handelt es sich um das in Schweizerdeutsch abgefasste Briefgedicht „Epistel an den Stabhalter“, Indizien fehlen [vgl. KSA 1/I, S. 93-95 und 1/I, S. 1496 (Kommentar)]. vorgekommen, den wir dir vor 14 Tagen aus dem Holzacheine der Stammkneipen Wedekinds in Aarau. zusandten? Wir waren beide schon in 5 Kneipen und oben drein in der katholischen Kirche gewesen, als wir ihn aufsetzten. –––

Und wie geht es denn Dir eigentlich und Deiner verliebten Seele, die eben im Begriff steht, sich aus Amorröm. Gott der Liebe.s rosigen | Ketten loszureißen und dem strengen Hymenauch: Hymenaios; in der griech. Mythologie der Gott der Hochzeit, bildlich dargestellt als schöner freundlich ernster geflügelter Jüngling. in die eisernen Klauen zu fallen? – Weißt du auch, daß die He Ehe nur für Philister paßt? – Apollogriech-röm. Gott der sittlichen Reinheit, der Mäßigung, des Lichts und Frühlings, der Künste und der Weissagung., Dianaröm. Göttin der Geburt, des Mondes und der Jagd; Beschützerin der Frauen und Mädchen., W Venusröm. Göttin der Schönheit und erotischen Liebe. BachusSchreibversehen, statt: Bacchus; röm. Gott der Fruchtbarkeit und Ekstase, des Weins und Weinbaus., Christusauch Jesus Christus, Beiname für Jesus von Nazareth, dem Stifter der christlichen Religion., die drei GracienEuphrosyne (die Frohsinnige), Thalia (die Blühende), Aglaia (die Strahlende) – den Hauptgöttern dienende röm. Göttinnen, die auch den Menschen Anmut, Schönheit und Liebreiz bringen., Alcibiadesathenischer Staatsmann, Redner und Feldherr; Schüler und Freund des Sokrates; bekannt für seine Schönheit, seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten, seine Eskapaden und Exzesse., GambettaLéon Gambetta, französischer Staatsmann der radikalen Linken, rief zusammen mit Jules Favre am 4.9.1870 in Paris die „Dritte Republik“ aus, war 1879 bis 1881 Präsident der Kammer, im Winter 1881/82 kurzzeitig Premierminister; seiner Geliebten Léonie Léon machte er nach 10 Jahren Beziehung 1882 einen Heiratsantrag, erkrankte aber vor der im Dezember 1882 geplanten Hochzeit und starb Silvester 1882 an einer Blutvergiftung infolge eines Unfalls mit einem Revolver – die Freundin geriet zeitweise in Verdacht. Wochenlang berichtete die europäische Presse über den Gesundheitszustand, Tod und Staatsbegräbnis am 6.1.1883 sowie anschließend in Nekrologen über das Lebenswerk. – sie alle waren ledig und sind in Folge dessen theilweise noch zu haben.

Wenn du also das Heirathen absolut nicht umgehen willst, so möchte ich dir rathen, der göttlichen Venus einen Antrag zu machen. Sie hat zwar schon sehr viele Liebhaber; das thut aber in diesem Falle absolut nichts, da sie, die im Olymposhöchstes Gebirge Griechenlands (2918 m), in der griech. Mythologie der Sitz der Götter. | oben zur Genüge mit dem/n/ Himmlischen beschäftigt ist, hier unten auf Erden ihre Stell sich durch Abgeordnete vertreten läßt, die an Stelle ihrer Herrin die/en/ Tribut und die Huldigungen der Menschen eincassiren. Du kennst sie ja schon, diese Abgeordneten, und ich habe dir nur den Weg gezeigt, Deine Bekanntschaft mit ihnen zu legitimiren. – Überlege dir die Sache noch und theil mir dann Deinen Entschluß mit; nur treib’ die Unterhandlungen mit der Mutter und Tochter nicht zu weit, schmiede Dich an keinen Felsen à la PrometeusSchreibversehen, statt: Prometheus – griech. Gott vom Geschlecht der Titanen (Riesen in Menschengestalt); in der griech. Mythologie Freund der Menschen, für die er von den Göttern das Feuer entwendet, weshalb er von Zeus an die Felsen des Kaukasusgebirges geschmiedet wird, wo ein Adler (bzw. nach einer Variante aus der römischen Kaiserzeit, ein Geier) regelmäßig von seiner Leber frisst. Herakles befreit ihn endlich von den Qualen woraufhin Zeus ihn begnadigt., sonst kommt der Geier d. h. die Reue, wenns zu spät ist, und dann – – – – – – – ––– – ––– ich will keine Perspectiven stellen und verbleibe dein treuer Franklin.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 2 Doppelblatt. Seitenmaß 11,5 x 18 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 5 hat Wedekind die römische Ziffer „II“ notiert, die einzelnen Seiten sind mit Bleistift von „1“ bis „8“ nummeriert (beides hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 25.4.1883 ist als Ankerdatum gesetzt – einen Tag für den Postweg von Straßburg nach Lenzburg gerechnet, das früheste mögliche Schreibdatum, von dem Monat („IV“) und Jahr („1883“) bekannt sind und das zwischen zwei Briefen [vgl. Hermann Huber an Wedekind, 24.4.1883 und Wedekind an Oskar Schibler, 28.4.1883] liegt.

  • Schreibort

    Lenzburg
    25. April 1883 (Mittwoch)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Solothurn
    Datum unbekannt

Erstdruck

Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Aargauer Kantonsbibliothek

Aargauerplatz
5001 Aarau
Schweiz

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Wedekind-Archiv
Signatur des Dokuments:
Wedekind-Archiv B, Schachtel 12, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler
Standort:
Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)

Danksagung

Wir danken der Aargauer Kantonsbibliothek für die freundliche Genehmigung der Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Oskar Schibler, 25.4.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

06.04.2023 17:33