Solothurn
8. Mai 83.
Mein Franklin!
Soeben habe ich die Photographie & die letzten Briefe
meiner aarauer teuflisch-reizenden LaisLais von Korinth, aus Sizilien stammende berühmte Hetäre, befreundet mit Diogenes; – hier ist eine verheiratete Frau aus Aarau gemeint, zu der Oskar Schibler seit dem Sommer 1882 eine Affäre unterhielt und von der nur ihre Initialen („E.v.B“) bekannt sind. verbrenntSchreibversehen, statt: verbrannt. – die Hitze trieb
mir das Blut in den Kopf & der Rauch Wasser aus den Augen. Welch Ironie
zwischen Ursache & Wirkung! Ich habe sie gehalten, sie aber nicht
mich.
Ich trug mich schon lange mit dem Gedanken ein Band
anzuknüpfen, das uns Gelegenheit geben würde zu interessanten, G/g/edankenerregenden,
fruchtbaren & uns auch mit einem grössern Kreise verbindenden (vorläufig
noch) Briefwechsel. Es ist in Kürze folgendes.
Wir befinden uns in einem/r/ Übergangsperiode. Die
nächsten Jahre weredenSchreibversehen, statt: werden.
Umwälzungen auf religiösem sowie auch socialem Gebiete hervorbringen & auch
wir sind berufen hier mitzuwirken. Treten wir nun einmal von dem elastischen,
immer zurückweichenden, | in der Luft schwebenden, ungreifbaren Boden der
Schwärmer & Träumerei auf diesen reelen Boden. Bilden wir einen Kreis von
verwandten Ansichten hegenden Genossen, betrachten wir die Fragen von unserm
noch ungetrübten StandpunteSchreibversehen, statt: Standpunkte.
aus, der allerdings ideell aber immerhin mit dem gewöhnlichen Leben in Contact sein soll.
Mein Ziel ist
vollständige Abschaffung der Kirche wie sie jetzt noch besteht & Verbindung
der Theile, die davon im Leben nothwendig sind mit der Schule. Einen grossen
Theil der Schuld an unsern modernen Übelständen wälze ich diesem Institute zu.
Befreien wir unsere Nachkommen von diesen Gespenstern, die mehr schaden als
nützen, lasst uns wieder froh, von den kalten Dogmen abgewendet, der Natur
zuwenden, denn sie ist unsere Mutter, sie erzog uns & bildete uns aus; die
starren Lehren verschlechterten & hinderten am Fortschritt. Wie hat sich
Gott uns Menschen offenbart? Niemand weiss es. Seien wir Menschen unter
Menschen, Kinder der Natur, frei von Aberglauben & Hass. Unsere Aufgabe ist
also zu untersuchen wie diese Frage auf dem besten Wege gelöst | werden kann,
dass wir die Quelle so vieler Uebel entfernen ohne dadurch dem guten Kerne zu
nahe zu treten sondern im Gegentheil diesen hervorziehen & ihn verständig ,/m/enschlich
verwerthen. Die Menschen haben Gott gemacht, er entspricht nicht mehr, also
haben wir auch wieder das Recht ihn abzusetzen, ein Ideal aufzustellen, das uns mehr nützt als ein todtes
unbestimmtes, ausgebeutetes „Etwas“. Alles auf die Seite schaffen können &
wollen wir nicht, denn der Mensch muss streben & dies kann er nur indem ein
höheres Gefühl ihn durchdringt & leitet. Ich habe uns speciell hiebei nicht
im Auge sondern die Gesammtheit, schaffen wir etwas lebendes & daraus wird
frisches Leben entstehen. Wo aber ist Leben, nirgends als in der Natur, seien
wir also natürlich, aber wie bei ihr der Fortschritt das Hauptmerkmal ist, so
überschreiten auch wir die Schranken ohne jedoch die durch die Bedürfnisse der
Gesellschaft gezogenen Grenzen zu überschreiten.
Du siehst aus der ganzen Darstellung meiner Idee, dass sie
noch völlig in der Luft schwebt, dass ich etwas ahne & nach etwas strebe,
das mir selbst noch unbewusst vorschwebt; ich habe aber die Überzeugung, dass
mit eiserner Consequenz an ein Ziel gelangt werden kann, das lohnen wird. Gehen
wir also näher ein, scheiden den Geist & denken | vom kommenden Körper
& wenn dies geschehen fragen wir uns, ist der ganze Apparat, Gott, Kirche,
Glaube nothwendig, um zufrieden zu leben & kann nicht vielmehr durch klare
Darlegung des Kernes, der allein durch Ueberzeugung & nicht durch Furcht
& Hoffnung herrschen soll, erreicht werden.
Huber
hat mir geschriebenDie Korrespondenz zwischen den ehemaligen Klassenkameraden der Aarauer Kantonsschule Hermann Huber und Oskar Schibler ist nicht überliefert.,
war wenig interessantes habe noch nicht geantwortet. Wenn Du ihm schreibst
theile ihm mit, ich hätte vorläufig noch viel zu arbeiten, was übrigens wahr
ist.
In der letzten Zeit habe ich Grabbe gelesen, denn ich muss einen Vortrag über
ihn halten. Erhabene, schöne Stellen, neben Misthaufen.
Mit dem nächsten Brief folgt wieder ein BandOskar Schibler hatte Wedekind bisher aus einer Heine Werkausgabe 2 Bände geliehen, darunter Heines „Reisebilder“ [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 25.4.1883 und 28.4.1883]. von Heine, ich selbst habe nur hie & da Zeit ein
wenig darin zu lesen, denn letztenSchreibversehen, statt: die letzten.
14 Tage wars wieder fidel 3 Tage nacheinander Nachmittags im Fass gekneipt, gebumeltin der Schüler- und Studentensprache Bezeichnung für einen Spaziergang mit dem Besuch mehrerer Kneipen. & das nöthigste gethanfür die Schule; Oskar Schibler legte im August 1883 an der Kantonsschule Solothurn die Maturaprüfung ab.. Jetzt hat sich die Arbeit
gehäuft.
Leb wohl in alter Treue Dein O.
[In der unteren linken
Ecke um 45 Grad gedreht:]
Grüss
alles Grüssbare!