Mein lieber alter
FreundOtto Eisenschitz in Wien (VIII, Langegasse 44) [vgl. Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Wien 1900, Teil VII, S. 215], Dramaturg am Theater in der Josefstadt [vgl. Neuer Theater-Almanach 1900, S. 567].,
lang lang ists her, seit wir uns gesehenFrank Wedekind traf Otto Eisenschitz mit Donald Wedekind im Frühjahr 1895 in Berlin und hatte bereits an die dortigen gemeinsamen Erlebnisse erinnert [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz. Hannover, 24.3.1898].. Es
wundert mich übrigens außerordentlich, daß wir einander vor zwei Jahren nicht
in Wien begegnetwährend des Gastspiels des Ibsen-Theaters (Direktion: Carl Heine) in Wien vom 2.6.1898 bis 12.6.1898 in, dessen Ensemblemitglied Wedekind seinerzeit war. Wedekind hatte das Wiener Gastspiel angekündigt [vgl. Wedekind an Otto Eisenschitz. Hannover, 24.3.1898]. sind. Ich hatte freilich von früh bis gen Mitternacht Arbeit
vollauf sonst würde ich Sie wol aufgestöbert haben. Es ist nicht ausgeschlossen
daß ich | im Lauf des nächsten Sommers
wieder nach Wien komme. Vor der Hand besuche ich nach Abschluß meiner HaftWedekind wurde am 3.2.1900 aus der Festungshaft entlassen, die er auf der Festung Königstein wegen Majestätsbeleidigung absaß.
meinen Freund Dr. Heine in HamburgDr. phil. Carl Heine in Hamburg (Eichenallee 11), dort inzwischen „Director des Carl Schultze-Theater“ [Hamburger Adreß-Buch 1900, Teil III, S. 256]., mit dem ich seinerzeit in Wien war und gehe
dann nach München zurück um mich in meiner so schmählich unterbrochenen
SchauspielereiWedekind war vor seiner Flucht in die Schweiz am 30.10.1898 infolge der Majestätsbeleidigungsaffäre um den „Simplicissimus“ am Münchner Schauspielhaus als Sekretär, Dramaturg und Schauspieler tätig gewesen. weiter zu bilden.
Wie geht es Ihnen? Sie | leben und wirken auch nur noch als Priester
ThaliensAnhänger der Thalia, der Muse des Lustspiels oder des Schauspiels überhaupt ‒ ein Stückeschreiber (die bewusst antiquierte Periphrase war eher im frühen 19. Jahrhundert gebräuchlich). Wedekind spielt darauf an, dass der Schriftsteller und Übersetzer Otto Eisenschitz nur noch als Dramaturg am Theater in der Josefstadt wirkte [vgl. Deutscher Litteratur-Kalender auf das Jahr 1900, Teil II, Sp. 305].. Ich sehne mich hier obenauf der Festung Königstein, wo Wedekind wegen Majestätsbeleidigung inhaftiert war (sie liegt oberhalb des Ortes Königsstein auf einem Felsplateau des Elbsandsteingebirges). danach zurück wie sich ein Fisch auf denSchreibversehen, statt: dem.
Trocknen nach dem Wasser sehnen muß.
Mein Bruder Donald lebt in Zürich ziemlich
einsam, mit Journalistik beschäftigSchreibversehen, statt: beschäftigt.. Der Strom des Lebens hat ihn noch nicht in
den Strudel hineingerissen. Seine Adresse ist ManeggasseSchreibversehen, statt: Maneggstraße (in Zürich gab es keine Manegggasse). Donald Wedekind wohnte in der Maneggstraße 5 in Untermiete (er war jedenfalls unter dieser Adresse nicht namentlich in den Adressbüchern verzeichnet). 5. Es wird indessen | wol nicht lange dauern, dann treibt er auch
wieder auf hohem Meer.
Seien Sie herzlich gegrüßt mein lieber Herr
Eisenschitz. In der Erwartung eines baldigen Wiedersehens
Ihr
Frank Wedekind.
Festung Königstein
8. Januar 1900.
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Mein lieber alter
Freund, lang, lang ist’s her, seit wir uns gesehen. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß ich im Lauf des nächsten Sommers wieder nach Wien komme.
Vor der Hand besuche ich nach Abschluß meiner Haft meinen Freund Dr. Heine in
Hamburg, mit dem ich seinerzeit in Wien war, und gehe dann nach München zurück,
um mich in meiner so schmählich unterbrochenen Schauspielerei weiter zu bilden.
Wie geht es Ihnen? Sie
leben und wirken auch nur noch als Priester Thaliens. Ich sehne mich hier oben
danach zurück, wie sich ein Fisch auf dem Trockenen nach dem Wasser sehnen muß.
Mein Bruder Donald lebt
in Zürich ziemlich einsam, mit Journalistikbeschäftigung. Der Strom des Lebens
hat ihn noch nicht in den Strudel hineingerissen. Es wird indessen wohl nicht
lange dauern, dann treibt er auch wieder auf hohem Meer.
Seien Sie herzlich
gegrüßt, mein lieber Herr Eisenschitz. In der Erwartung eines baldigen
Wiedersehens Ihr
Frank Wedekind.
Festung Königstein, 8.
Januar 1900.