Aarau d. 16 M. 1884
Werther Herr!
Mit viel Freude u Dank
nehme ich Ihren PrologHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zum übersandten Prolog; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Lina Renold, 15.3.1883. – Es dürfte sich um ein gedrucktes Exemplar von Wedekinds „Prolog zur Abendunterhaltung der Kantonssschüler“ handeln, den der Autor am Kantonsschülerfest (1.2.1884) mit großem Beifall vorgetragen hatte [vgl. KSA 1/I, S. 114-117 und KSA 1/II, S. 1983ff.] und der in einer Auflage von einigen hundert Exemplaren im Aarauer Verlag H. R. Sauerländer erschienen war [vgl. Karl Heinrich Remigius Sauerländer an Wedekind, 13.2.1881]. an u werde mir sogar erlauben, denselben an
auswendig zu lernen. Obwohl mir, noch nie vergönnt war, ein Kind Ihrer Muse zu
lesen, so glaube ich doch, aus diesem ersten den Genius, der daraus leuchtet zu erkennen u weiss nicht, ob ich Ihnen noch ein Gedicht von
mir schicken darf.
Das beigelegte epische Gedicht „Hülfe“ ist nur ein
schwacher fast unerkennlicher Schatten. Die Religion, die den Bela|denen Trost
u Hülfe bringt, vermag ich nicht, in ihren/m/ schönen, reinen Lichte
darzustellen, wie sie es in Wirklichkeit ist; ich finde nicht Worte, wieSchreibversehen, statt: wie ich. gern möchte.
Es ist mir leider wahrscheinlich nicht möglich
vor den nächsten Feriendie Ferien nach den Jahreszeugnissen des Schuljahrs 1883/84; sie begannen nach der Zeugnisübergabe am 10.4.1884.
noch viel in Poesie zu arbeiten, denn die Schule fordert ihre Pflicht; jedoch
damit ich nicht ganz ‚prosaisch‘ werde, lese ich jeden Tag aus den Werken Schiller’sUm welche Werkausgabe es sich handelt, ist nicht ermittelt..
Wie ich höre, werden Sie bald nach Ende dieses
Schulju/a/hres Ihre Heimath verlassenWedekind studierte ein Semester neuere Sprachen an der Académie de Lausanne, ehe er zum Wintersemester 1884/85 an der Universität in München für Jura immatrikuliert wurde., um sich in Ihrem Berufe gänzlich auszubilden u | es
thut mir wirklich sehr leid, wenn ich schon so früh meinen Lehrer verlieren muss!
.....
Oft werde ich an Ihn denken u den Prolog u die
guten RätheRatschläge. lesen u
studiren.
Indessen hoffe ich, dass der Ewige, Ihre
Muse krönen werde u Ihnen vergelten was Sie mich gelehrt haben u ......
Meinen
freundschaftlichsten
Grusse
Lina Renold
[Beilage:]
Hülfe.
1. Die Flocken fallen
leise nieder,
Sie decken leicht die öde Erde zu.
Und manches arme Herze wieder
Entfindet(schweiz.) Empfindet. tief die
Jahreszeit der Ruh!
2. So jene Wittwe mit dem Kinde,
Das halberstarrt an ihre Brust sie drückt.
Ganz kraftlos geht sie, nicht geschwinde
Einher, von ihrer lieben Last gebückt.
3. O Gott! sie seufzet leis, nur lieise,
Wie kalt u mitleidsloskorrigiert (mit Korrekturzeichen für Zusammenschreibung) aus: mitleid los.
die Herzen sind;
Ach, überall in schlechter Weise
Verstieß man mich, als Brod ich fleht fürs Kind.
4. O Gott! erhöre mich u wieder
Leicht pocht sie an des Reichen Thür, doch bald
Barsch abgewiesen fortwankt wieder,
Wie sie gekommen, mit dem Kinde, kalt.
5. Noch einen Blick der Stadt zu werfend,
Wo alles still, geschäftig geht den Weg;
Und läuft dann, ihren Schritt verschärfend
Den Feldern zu u über einen Steg. |
6. Sie setzt sich, hinter jenem Walde
Die Sonne gehet unter, goldnen Strahl
Sie fie f wirft auf Flur, verschwindet balde;
Im Herzen graben Wunden sich wie Stahl.
7. Da tönen feierlich die Golocken,
so schön, so rein durch Hain u Felder hin,
Und auch hernieder fall’n die Flocken
Viel stiller, ruh’ger, weiche wird der Sinn.
8. Es steigt vor ihrem Aug’ die Jugend,
Die schöne, sel’ge auf, wo sie nur rein
Und freudig gieng die Bahn der Tugend,
Gar nichts gewußt von Sorgen, Schmerz u Pein.
9. Im matten Auge glänzen Thränen,
Sie schaut hinauf zum ewig blüh’nden Zelt,
Dann auf ihr Kind mit tiefem Sehnen,
Sie blicket stillbefriedigt auf die Welt.
10. Es wird das Kirchenläuten ferne,
Ihr bald zum mächtig rauschenden Choral;
Vertrauungsvoll zu jenem Sterne
Aufblickend, schlummert sie zum letzten Mal. |
11. Die heil’gen sanften Tön’ verklingen,
Der Todesengel niedersteigt im Flor,
Von ihm gestärkt, getragen schwingen
Die Seelen jauchzend sich zu Gott empor.
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