Kennung: 5362

München, 29. Mai 1885 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Emilie

Inhalt

München, im Mai 1885 –


Liebe Mama.

Jetzt hab’ ich schon drei liebe BriefeSeit Wedekinds Geburtstagsbrief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.5.1885] ist von der Mutter lediglich ein Briefzitat überliefert [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 27.5.1885], so dass zwei weitere Briefe zu erschließen sind: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.4.1885 und 9.5.1885. auf von Dir auf Lager und will sie demnach der chronologischen Reihenfolge nach getreulich beantworten. Vor allem aber für alle Drei meinen herzlichsten Dank und der aufrichtige Wunsch, es möchten Dir meine Briefe eben so großes Vergnügen bereiten, wie die Deinigen mir, denn als dann müßtest du manche frohe Stunde haben. Aufrichtig gestanden, ich übertreibe min/t/ keiner Sylbe,: Deinen letzten Brief hab’ ich vor heller Freude abgeküßt, als ich | noch kaum die erste Seite herunter gelesen hatte. Das war aber auch ein ä/e/chter impulsiver Herzenserguß, den nicht irgend eine Gelegenheit, ein geschäftliches Bagatell zu verantworten hatte, sondern der aus dem reinen Drang nach Mittheilung, nach Entlastung der übervollen Seele geflossen ist. Und nun soll ich dich also tadeln, weil du von der RectoratsgeschichteDie näheren Umstände sind nicht ermittelt; Wedekind erwähnte die Geschichte bereits in seinem Neujahrsbrief [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 31.12.1884]. geschwatzt hast? – Aber was denkst du denn von mir, liebe Mama,/?/ e/E/s hat mich selten etwas so gefreut, wie dieser scharfe Streit zwischen den Schlichen des Jesuitismus und der Frömmelei und dem unerschrockenen Muthe von Wahrheit und Gerechtigkeit, den Du so rühmlich ausgekämpft hat/s/t. Und wie singt doch der alte Heide, der universalmenschSchreibversehen, statt: Universalmensch. Göthe, obschon er sonst nicht gerade dein Freund ist: Nur die LumpenZitat aus Johann Wolfgang Goethes Gedicht „Rechenschaft“ (1810), das zum geflügelten Wort avanciert war: „Nur die Lumpe sind bescheiden, / Brave freuen sich der That“ [Büchmann 1879, S. 90]. sind bescheiden, Gute freuen sich der That[“], und darin hat er meiner unmaßgeblichen | Ansicht nach vollkommen Recht, denn es scheint mir das Zeichen eines kleinlichen Geistes zu sein, wenn man nicht einmal den Muth hat, zu seinen guten Seiten zu stehen, geschweigen denn zu seinen S/s/chlechten. Treten a/d/och auch die alten Helden im Homer jeweilen mit den Worten auf: „Ich rühme mich, der und der zu sein und dies und jenes vollbracht zu haben.“ Ich selber bin ja, du weißt es, durchaus kein Freund von Selbstüberhebung, aber dennoch glaube ich, daß die Rücksichtschinderei, die vielen leeren Phrasen und gegenseitigen Unwahrheiten, die man sich heutzutage auf Schritt und Tritt ins Gesicht sagen muß, nicht des Geringsten wenig daran schuld sind, daß alle Welt seine Naivetät verloren hat und kein Mensch mehr im Stande ist, natürlich zu denken und zu empfinden. –– Ob Herr Gymnasiallehrer Schneidewin in Hameln selber auch ein PessimistDer Latein- und Griechisch-Lehrer Max Schneidewin hatte unter anderem auch zum philosophischen Pessimismus publiziert, darunter der Essay „Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann“ [in: Drei populär-philosophische Essays. Hameln 1883, S. 3-25]. Außerdem hatte er das Buch „Lichtstrahlen aus Ed. v. Hartmann’s sämmtlichen Werken“ (1881) herausgegeben und mit einer Einleitung versehen, das Wedekind 1881 von seiner ‚philosophischen Tante‘ Olga Plümacher zum 17.Geburtstag geschenkt bekommen hatte [vgl. Kutscher 1, S. 46]. ist, weiß ich nicht; aber ich weiß, daß er Lichtstrahlen aus E v. Hartmanns Werken herausge|geben hat und deshalb wol auch in irgend welcher persönlichen Beziehung zu ihm stehen wird. Immerhin freut es mich ungemein für Fra/Tan/te Plümacher, daß jener Mann ihren ja gewiß verdienten Ruf verbreiten hilftOlga Plümachers Beschäftigung mit Eduard von Hartmann schlug sich in den beiden philosophiehistorischen Monographien „Der Kampf um’s Unbewusste“ (Berlin 1881) und „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichtliches und Kritisches“ (Heidelberg 1884) nieder. Diese Publikationen veranlassten Max Schneidewin zu seinem Aufsatz „Eine phänomenale Frau“ [Hannoverscher Courier, Jg. 32, Nr. 13448, 1.5.1885, Morgen-Ausgabe, S. (1)-3], in dem er bekannt machte, „daß sich jüngst eine Frau auf dem der Frauennatur fernab liegenden Gebiete der strengen Philosophie durch ganz hervorragende Leistungen einen Lorbeerkrank gewunden hat“ [S. 1], da „diese Frau sich als vollständige Beherrscherin der einschlägigen philosophischen monographischen Literatur erweist“ [S. 3]. Und obwohl Schneidewin sich „der gewaltigen Kämpferin O. Plümacher“ für den Pessismismus nicht anschließen will, hebt er nachdrücklich „die Phänomenalität der Geisteskraft und der Leistungen dieser Frau“ [S. 3] hervor. Im Herbst setzte er seine Auseinandersetzung mit Olga Plümacher in seinem Aufsatz „Zur populären Orientierung über den modernen philosophischen Pessimismus“ [Hannoverscher Courier, Jg. 32, Nr. 13638, 20.10.1885, Abend-Ausgabe, S. (1)-2 und Nr. 13639, 21.10.1885, S. 5-6] fort. In einer späteren Rezension betonte er dann noch einmal das „märchenhafte und nie dagewesene Genie einer Olga Plümacher für die schwierigsten und abstrusesten Fragen der Weltweisheit“ [Hannoverscher Courier, Jg. 39, Nr. 17669, 1.6.1892, Abend-Ausgabe, S. (1)].. Aber vielleicht rechnet er auch darauf, daß die phänomänaleSchreibversehen, statt: phänomenale. Frau über kurz oder lang einen phänomänalen Mann in der ZeitenSchreibversehen, statt: in der Zeitung. proclamirt. Wenn du michvielfach verbreitetes Zitat der Schlussverse aus Heinrich Leutholds Gedicht „Auf Gegenseitigkeit“ (1872): „Und wenn du mich mit Goethe vergleichst, /Vergleich’ ich dich mit Lessing.“ [Heinrich Leuthold: Gedichte. Frauenfeld 1879, S. 103] mit dem Göthe vergleichst, vergleich ich dich mit dem Lessing.“ schreibt Leuthold und warum sollen sich auch die Literaten nicht gegenseitig aufhelfen und beistehen? Nur ist es für das superiorere Genie halt immer ein schlechter Tausch. –– Mir geht es hier in München soweit sehr gut. Umgang hab’ ich nicht viel aber dafür um so gewählteren. Letzten Mittwocham 27.5.1885. sah und hörte ich zum zweiten MaleMozarts Oper „Figaros Hochzeit“ (1786) wurde am 27.5.1885 am Königlichen Hof- und Nationaltheater München aufgeführt; Emilie Herzog sang den Cherubin. Zum ersten Mal hat Wedekind die Oper dort am 11.12.1884 oder am 29.1.1885 sehen können. Figaros Hochzeit und nächsten Donnerstagam 4.6.1885. wird die ZauberflöteDie Aufführung von Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ (1791) fand am Königlichen Hof- und Nationaltheater München nicht am Donnerstag, sondern erst am Sonntag, den 7.6.1885 statt; Emilie Herzog sang die Papagena. gegeben. Das ist mir doch die liebste Musik trotz aller Virtuosität | Kraftgenialität, Sentimentalität und Frivolität anderer jüngerer Meister. Solch’ schöne, reine, lebensfrohe Klänge zu vernehmen ist doch der höchste musikalische Genuß den ich mir denken und verstehen kann. Jüngst las ich auch das Leben Mozartsvermutlich die populäre Mozart-Biographie von Ludwig Meinardus, der in seiner Einleitung schrieb, Mozarts „Lebensdrama“ habe „das Gepräge einer Tragödie“ [Ludwig Meinardus: Mozart. Ein Künstlerleben. Berlin, Leipzig 1883, S. VIII]., eine erschütternde Tragödie, die mich mehr ergriffen hat, als irgend eine auf der Münchner Hofbühne. – Herrn Glinzmöglicherweise Theophil Glinz, der seit 1882 Zeichen- und Turnlehrer an der Bezirksschule in Lenzburg war., katzenmusikalischen Angedenkens, sah ich allerdings eine Zeit lang hier in den Straßen herumschnüffeln und traf ihn auch öfters im Theater an. Da ich ihm aber schon das erste Mal keine Gelegenheit gab, sich mir zu nähern, so sahen wir auch in der Folgezeit an einander vorbei, ohne uns zu bemerken. – Und nun grüße ich Dich, liebe Mama, von ganzen Herzen, und auch die andern alle, besonders Doda, den kleinen großen Don Chuan, und verbleibe indessen Dein treuer Sohn Franklin. – |


P. S. Die Socken hab’ ich richtig erhaltenHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben zu der Sendung; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 25.4.1885. Die Mutter hatte sich zuletzt nach dem Verbleib der Socken erkundigt [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 27.5.1885].. Meinen besten Dank dafür, ich trage sie schon über einen Monat lang.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Doppelblatt + Einzelblatt. Seitenmaß 14 x 22,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 29.5.1885 ist als Ankerdatum gesetzt. Der vorliegende Brief an die Mutter lag einem auf diesen Tag datierten Brief an Friedrich Wilhelm Wedekind bei [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 29.5.1885] und dürfte am gleichen Tag geschrieben worden sein.

  • Schreibort

    München
    29. Mai 1885 (Freitag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

(Band 1)

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
101-104
Briefnummer:
29
Kommentar:
Im Erstdruck ohne das „P. S.“ ediert. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 91-93 (Nr. 35).
Status:
Ermittelt (sicher)

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 191
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 29.5.1885. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (01.07.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

18.06.2024 11:53