Kennung: 730

München, 22. August 1909 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Zeiß-Gasny, Hedwig

Inhalt

[1. Briefentwurf mit Entwurf des Rahmens:]


Der Ein ungalante Dichter

eine namhafte Schauspielerin vom Dresdener Hoftheater und Gattin des dortigen Dramaturgen Frau Hofrat Z. wanteSchreibversehen, statt: wandte. sich vor kurzem an Frank Wedekind, mit der Bitte, Wedekinds um die Erlaubnis das Gedicht „Der Reisekoffer“ in einer literarischen Matinee in Dresden öffentlich vortragen zu dürfen. Wedekind antwortete der Dame umgehend folgendes: Sehr geehrte gnädige Frau Hofrat!

Sehr galant klingt diese Zurückweisung klingt das gerade nicht. u/U/nd trotzdem wird die Dame Herrn Wedekind für seine diese seine Ablehnung dankbar sein müssen, da sie das viel weit viel weniger als zweideutige Wedekindsche Gedicht „Der Reisekoffer“ offenbar gar nicht verstanden hat. Sie wäre sonst schwerlich jemals auf den Gedanken verfallen, es in einer literarischen Matiné zum besten zu geben.


[2a. Druck in den „Münchner Neuesten Nachrichten“:]


Wedekind und die Dresdner. Ein angesehenes weibliches Mitglied des Dresdener Hoftheaters, Gattin des dortigen Dramaturgen, wandte sich vor kurzemHinweis auf ein nicht überliefertes Schreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Hedwig Zeiß-Gasny an Wedekind, 21.8.1909. an Frank Wedekind mit der Bitte um die Erlaubnis, das Gedicht „Der Reisekoffer“ in einer literarischen Matinee in Dresden öffentlich vortragen zu dürfen. Wedekind antwortete der Dame umgehend folgendes:

„Sehr geehrte gnädige Frau HofratHedwig Zeiß (geb. Gasny), die mit ihrem Gatten, dem Hofrat und Hoftheaterdramaturgen Dr. phil. Karl Zeiß in Dresden (Kaiser Wilhelm-Platz 4) [vgl. Adreßbuch für Dresden 1910, Teil I, S. 1047] lebte, ehemals Hofschauspielerin in Dresden [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 355] und auf das Rollenfach der Naiven spezialisiert, gab in Dresden Leseabende, deren Erfolg die Presse vermerkte: „Frau Hofrat Hedwig Zeiß-Gasny, die seit ihrem Weggang von der Dresdner Hofbühne als Vortragskünstlerin mit glänzendem Erfolge aufgetreten ist“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 54, Nr. 358, 27.12.1909, S. (3)].! Bei der uneingeschränkten Verachtung, die das Dresdener Hoftheater seit 20 Jahrenseit 1889; das Dresdner Hoftheater (Generaldirektion seit 1894: Nikolaus von Seebach) hatte bis dahin kein einziges Stück Wedekinds inszeniert, von dem eine entsprechende Anfrage überliefert ist [vgl. Wedekind an Nikolaus von Seebach, 24.10.1894]. für meine gesamte dramatische Arbeit an den Tag legt, kann es unmöglich in meinem Interesse liegen, dem Dresdener Publikum von einer Hofschauspielerin durch den Vortrag von Gedichten wie ‚Der Reisekoffer‘Das zuerst in der Sammlung „Die Jahreszeiten“ (1897) veröffentlichte, für die Sammlung „Die vier Jahreszeiten“ (1905) überarbeitete Gedicht „Der Reisekoffer“ [KSA 1/I, S. 420f., 655f.] wurde als Beispiel für Wedekinds Humor rezipiert [vgl. KSA 1/II, S. 1274]. vorgeführt zu werden. Ich glaube, dankbarere Aufgaben für Schlauspielerinnen geschaffen zu haben. Für Ihre liebenswürdige Absicht, durch deren Ausführung Sie mir keine besondere Ehrung erwiesen hätten, wie Sie vielleicht voraussetzten, sage ich Ihnen meinen ergebensten Dank. Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochschätzung F. W.“


[2b. Druck im „Grazer Tagblatt“:]


(Der ungalante Wedekind.) Eine namhafte Schauspielerin vom Dresdener Hoftheater und Gattin des dortigen Dramaturgen wandte sich vor kurzem an Frank Wedekind mit der Bitte um die Erlaubnis, das Gedicht ‚Der Reisekoffer‘ in einer literarischen Matinée in Dresden öffentlich vortragen zu dürfen. Wedekind antwortete der Dame umgehend folgendes: „Sehr geehrte gnädige Frau Hofrat! Bei der uneingeschränkten Verachtung, die das Dresdener Hoftheater seit 20 Jahren für meine gesamte dramatische Arbeit an den Tag legt, kann es unmöglich in meinem Interesse liegen, dem Dresdener Publikum von einer Hofschauspielerin durch den Vortrag von Gedichten wie ‚Der Reisekoffer‘ vorgeführt zu werden. Ich glaube, dankbarere Aufgaben für Schlauspielerinnen geschaffen zu haben. Für Ihre liebenswürdige Absicht, durch deren Ausführung Sie mir keine besondere Ehrung erwiesen hätten, wie Sie vielleicht voraussetzten, sage ich Ihnen meinen ergebensten Dank. Mit dem Ausdrucke vorzüglichster Hochschätzung F. W.“ Sehr galant klingt dies gerade nicht. Und doch wird die Dame Herrn Wedekind für seine Ablehnung dankbar sein müssen, da sie das viel weniger als zweideutige Wedekind’sche Gedicht „Der Reisekoffer“ offenbar gar nicht verstanden hat. Die Frau Hofrat wäre sonst schwerlich jemals auf den Gedanken verfallen, dieses Gedicht in einer literarischen Matinée zum besten zu geben.


[2c. Druck in den „Dresdner Nachrichten“:]


Ein hochgeschätztes früheres Mitglied unseres Königl. Schauspiels Frau Hofrat Gasny-Zeiß wandte sich vor kurzem an Frank Wedekind mit der Bitte um die Erlaubnis, das Gedicht „Der Reisekoffer“ in einer literarischen Matinee in Dresden öffentlich vortragen zu dürfen. Wedekind antwortete der Dame umgehend folgendes:

Sehr geehrte gnädige Frau Hofrat! Bei der uneingeschränkten Verachtung, die das Dresdner Hoftheater seit 20 Jahren für meine gesamte dramatische Arbeit an den Tag legt, kann es unmöglich in meinem Interesse liegen, dem Dresdner Publikum von einer Hofschauspielerin durch den Vortrag von Gedichten wie ‚Der Reisekoffer‘ vorgeführt zu werden. Ich glaube, dankbarere Aufgaben für Schlauspielerinnen geschaffen zu haben. Für Ihre liebenswürdige Absicht, durch deren Ausführung Sie mir keine besondere Ehrung erwiesen hätten, wie Sie vielleicht voraussetzten, sage ich Ihnen meinen ergebensten Dank. Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochschätzung F. W.“

Sehr galant klingt dies gerade nicht. Aber auch rein sachlich hätte man von Herrn Frank Wedekind eine andere Begründung der höflichen Bitte erwarten dürfen. Dem Dresdner Hoftheater wird wahrhaftig niemand den Vorwurf literarischer Rückständigkeit machen können. Immerhin ist es doch nicht verpflichtet, den literarischen Produktionen des Herrn Frank Wedekind, die, ob mit, ob ohne Absicht des Verfassers – das sei dahingestellt, zynisch und zersetzend wirken, seine Tore zu öffnen. Herr Wedekind scheint es als eine Todsünde anzusehen, wenn deutsche Kunstinstitute in der Erwerbung von „Frühlingserwachen“, „Erdgeist“, die „Büchse der Pandora“ keine ersprießliche Bereicherung ihrer Spielpläne ersehen. Die Leitungen der deutschen Hoftheater sind darin von absoluter Einmütigkeit, mit, soviel uns bekannt ist, der Ausnahme des Stuttgarter Hoftheaters, das die Satire „Der Kammersänger“ brachte. Sehr weit geht schließlich Herr Wedekind, wenn er die aus dem Verhalten einer Hofbühne von ihm gezogenen Konsequenzen auf die früheren Mitglieder derselben ausdehnt.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 1 Seite beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Liniertes Papier. Notizbuchblatt. 10 x 16,5 cm.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf mit dem ausformulierten Entwurf des Rahmens für die Publikation als offener Brief ist im Notizbuch [Nb 58, Blatt 32r] überliefert. Die endgültige Fassung des Briefs, den Wedekind mitsamt Rahmen wohl unter dem Gesamttitel „Der ungalante Wedekind“ der Konzertagentur Emil Gutmann übergab, die ihn der Presse zum Abdruck sandte, ist nur im Druck überliefert. Der an die Adressatin abgesandte Originalbrief ist verschollen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 22.8.1909 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum des als offener Brief konzipierten Schreibens, das Wedekind mitsamt einem Rahmentext am 23.8.1909 in mehreren Exemplaren kopieren ließ: „Ich lasse Notiz wegen Gasny verfielfältigen“ [Tb]. Er brachte es am 25.8.1909 persönlich der Konzertagentur Emil Gutmann: „Besuch bei Gutmann, der den Versand der Reisekoffernotiz übernimmt“ [Tb], die es der Presse übermittelte (in mindestens drei Zeitungen veröffentlicht).

Hedwig Zeiß-Gasny hat den Originalbrief am 28.8.1909 in Dresden empfangen, wie sie der Presse vor Ort telefonisch mitteilte: „Die Künstlerin hat das Original des Wedekindschen Schreibens erst gestern morgen erhalten.“ [Der ungalante Wedekind. In: Dresdner Nachrichten, Jg. 53, Nr. 239, 29.8.1909, Abend-Ausgabe, S. (2)]

  • Schreibort

    München
    22. August 1909 (Sonntag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Dresden
    28. August 1909 (Samstag)
    Ermittelt (sicher)

Erstdruck

Münchner Neueste Nachrichten

Verlag:
München: Knorr und Hirth
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Wedekind und die Dresdner. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 62, Nr. 400, 28.8.1909, Vorabendblatt, S. 3. – Der offene Brief ist außer im Erstdruck am 27.8.1909 in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ (im Vorabendblatt einen Tag vordatiert) in zwei weiteren Zeitungen nachweisbar, mit dem Rahmen des offenen Briefs im „Grazer Tagblatt“ [vgl. Der ungalante Wedekind. In: Grazer Tagblatt, Jg. 19, Nr. 238, 28.8.1909, Morgen-Ausgabe, S. 4] und ohne Titel sowie mit redaktionell variiertem Rahmen in den „Dresdner Nachrichten“ [vgl. Dresdner Nachrichten, Jg. 53, Nr. 238, 28.8.1909, Abend-Ausgabe, S. (1)], die am Tag darauf erklärten, dass sie Wedekinds Rahmentext zu dem offenen Brief ignoriert haben: „‚Der ungalante Wedekind‘. Unter dieser Spitzmarke sandte uns die Konzertagentur Emil Gutmann in München einen Brief, in dem Herr Frank Wedekind Frau Hofrat Zeiß-Gasny die erbetene Berechtigung, in einer literarischen Matinee das Gedicht ‚Der Reisekoffer‘ zu rezitieren, abschlug, und zwar mit dem Hinweis auf die ‚uneingeschränkte Verachtung, die das Dresdner Hoftheater gegen seine gesamte literarische Arbeit an den Tag lege‘. Den Brief haben unsere Leser mit einem kurzen Kommentar im gestrigen Abendblatt der ‚Dresdner Nachrichten‘ gefunden. Wie uns nun Frau Hofrat Zeiß-Gasny telephoniert, steht sie der Veröffentlichung dieses Briefes vollkommen fern. Die Künstlerin hat das Original des Wedekindschen Schreibens erst gestern morgen erhalten. Es ist in diesem Falle wohl interessant, festzustellen, daß Herr Frank Wedekind die Ablehnung einer höflichen Bitte noch naß der Konzertagentur von Emil Gutmann übermittelte, die es mit einer Art (von uns nicht abgedruckter) Reklame für das Gedicht ‚Der Reisekoffer‘ an die Presse weitergab. Kommentare sind überflüssig – les affaires sont les affaires.“ [Dresdner Nachrichten, Jg. 53, Nr. 239, 29.8.1909, Abend-Ausgabe, S. (2)] – Die Neuedition „Sehr geehrte gnädige Frau Hofrat!“ [KSA 5/II, S. 324] folgt dem Druck in den „Dresdner Nachrichten“ [vgl. KSA 5/III, S. 768-770).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
L 3501/58
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Hedwig Zeiß-Gasny, 22.8.1909. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. http://briefedition.wedekind.h-da.de (01.07.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

10.06.2024 12:54