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München, 25.VIII.1898.
Sehr verehrte liebe Frau Doctor,
alea est iactaalea iacta est (lat.): Der Würfel ist gefallen. Der Ausspruch wird Julius Cäsar zugeschrieben, der sich bei Überschreiten des Rubikon entsprechend geäußert haben soll.! Seit
vier Tagenseit dem 22.8.1898, an dem der Vertrag für Wedekinds Engagement am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) als Dramaturg, Schauspieler und Sekretär [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443] geschlossen worden ist (es endete unfreiwillig bereits am 30.10.1898 durch Wedekinds Flucht vor Verhaftung im Zuge der Majestätsbeleidigungsaffäre um den „Simplicissimus“). bin ich als Dramaturg und Schauspieler am Münchner Schauspielhaus
engagirt mit 150 Mk. Fixum pro Monat, derselben Gage, die ich anfangs bei IhnenWedekind war in der ersten Jahreshälfte 1898 an Carl Heines Ibsen-Theater in Leipzig als Dramaturg und Schauspieler engagiert gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 408].
hatte. Der Bestand des TheatersDer Bestand des Münchner Schauspielhauses war aus finanziellen Gründen gefährdet gewesen, was überhaupt zum Wechsel der Direktion von Emil Drach zu Georg Stollberg geführt hatte. ist bis 1. Juni 99 garantiert. Am 7. oder 15.
nächsten Monats beginnen wir zu spielenDie erste Inszenierung unter Georg Stollberg als neuem Direktor am Münchner Schauspielhaus war am 7.9.1898 die Premiere von Georg Hirschfelds Schauspiel „Die Mütter“ [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 412, 7.9.1898, General-Anzeiger, S. 1]. Am 10.9.1898 (Samstag) ging „als zweite Neuaufführung die vieraktige Komödie ‚Der Biberpelz‘ von Gerhart Hauptmann in Scene.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 101, Nr. 249, 9.9.1898, S. 6] Unter den Darstellern war Wedekind angekündigt, der die genannte Rolle des Dr. Fleischer dann auch spielte. voraussichtlich mit Biberpelz, in dem
ich den Dr. Fleischer abgeben werde. Man fragt mich allgemein, da ich seit
meinem Hiersein vorgegeben hatte, für den nächsten Winter bei Ihnen engagirt zu
sein, was Sie dazu sagen werden. Ich entgegne darauf der Wahrheit gemäß, daß
Sie es mir zu allerletzt verdenken werden, wenn ich mein Können anderwärts zu
erproben versuche, nachdem Sie mich unter der Gefahr, Fiasko damit zu machen,
aus Nacht und Finsternis ans Tageslicht gezogen haben. Stollberg, unser
Director, ist gegenwärtig in Berlin und Wien, um neue Kräfte zu engagiren. Ich
habe ihm vor allen Dingen geraten, sich auf sehr guten Fuß mit dem Hoftheater
zu stellen und bin ihm selber mit gutem Beispiel vorangegangen. Ich stand
früher sehr schlecht mit Savits und BuchholzJocza Savits war Oberregisseur und Wilhelm Buchholz Dramaturg am Münchner Hoftheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 437]., die ich
insultirtbeleidigt, beschimpft, verhöhnt. hatte, weil sie meine Junge Welt nicht aufführen wollten. Savits sprach ich vor einigen Tagen
nachts um drei Uhr auf der Straße an; wir gingen Arm in Arm, machten uns gegenseitig
übereinander lustig, was ihn nicht hinderte vom Erdgeist anzufangen. Ich ging
gleichgültig darüber hinweg und sprach von Dr. Heine und dem Ibsentheater. Dann
trennten wir uns in absoluter Ulkstimmung. Gestern abend aber war unter großer
Feierlichkeit GeneralprobeEs handelte sich nicht um die Generalprobe, sondern um die Premiere von Bjørn Bjørnsons Schauspiel „Johanna“ am 24.8.1898 im Königlichen Residenztheater in München [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 388, 24.8.1898, General-Anzeiger, S. 1], die Wedekind besucht hat. von ,,Johanna“. Es gelang mir gleich zu Anfang,
Savitsens wieder auf einen Moment habhaft zu werden, als plötzlich der alte
Biörnsonder norwegische Schriftsteller Bjørnstjerne Bjørnson, Schwiegervater des Verlegers Albert Langen. auf mich zu kam und mir herzlich die Hand schüttelte. Das war
entscheidend. Den Rest des Abends unterhielt ich mich vom Parket ausWedekind saß bei der Premiere von „Johanna“ am 24.8.1898 (siehe oben) also unten, im ebenerdigen, direkt vor der Bühne gelegenen Teil des Zuschauerraums des Residenztheaters. mit dem
jungen BjörnsonBjørn Bjørnson, Sohn von Bjørnstjerne Bjørnson (siehe oben), dessen Schauspiel „Johanna“ Münchner Premierenabend hatte., der an Possarts Seite in der DirectionslogeOben in dieser Loge saßen der Intendant der Königlichen Hoftheater in München (Königliches Hof- und Nationaltheater und Königliches Residenztheater) Ernst Ritter von Possart [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 437] und Bjørn Bjørnson, dessen Stück gerade aufgeführt wurde. saß. Buchholz, der
mich vor acht Tagen noch keines Blickes würdigte, bat mich um Entschuldigung,
als ich ihm beim Hinausgehen auf die Hühneraugen trat.
Aber jetzt genug von mir. Herzlichsten Dank für Ihren lieben
Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 17.8.1898., der mir eine große Wohlthat war, als Beweis dafür, daß das Leben einen
inneren Sinn hat und man nicht nur wie ein steuerloses Wrack von einer Klippe
auf die andere geschleudert wird. Ihr Helgoländer Aufenthalt wird wol nicht
mehr sehr lange dauern. Ich freue mich nun erst recht darauf, Sie im Winter
wiederzusehen. Eine Gelegenheit wird sich leicht finden.
Biörnsons „Johanna“ ist nun gestern so gut wie
durchgefallen. Ich glaube aber trotzdem, daß sich das Stück ein Jahr lang mit
Glück halten wird, da es dem größeren Publikum entschieden näher liegt als der
Kritik. Es erinnert mich in dieser Hinsicht an den Evangelimann von Kienzl„Der Evangelimann. Musikalisches Schauspiel in zwei Akten“ (1894) von Wilhelm Kienzl (Musik und Libretto), eine Oper mit rührseliger Handlung, die sehr populär war.,
ebenso eintönig, ebenso corrumpirt, aber sehr zeitgemäß. Es ist bis jetzt von
14 deutschen Bühnen angenommen und wird anderwärts wol auch noch etwas besser
gespielt werden als hier in München. Wie steht es mit Ihrer Reise nach
Straßburg? Werden Sie sie wirklich unternehmen? Gestern war ich bei Weber, der
mich aufgesucht und nicht getroffen hatte. Er steuert geradeswegs darauf los,
sich hier ein opulentes Heim zu gründen. Mit dem prachtvollen Wetter ist es
hier jetzt vorbei, hoffentlich nicht auch bei Ihnen. In den letzten Tagen hatte
ich wieder begonnen zu radelnWedekind fuhr bereits in den 1880er Jahren Fahrrad, wie etwa sein 1886 geschriebenes „Frühlingslied eines Velocipedisten“ [KSA 1/I, S. 235-237; vgl. KSA 1/II, S. 1614] belegt; er dürfte seinerzeit ein Hochrad (Velociped) gefahren sein, während inzwischen das Niederrad auf dem Markt war. und merkte zu meinem Schrecken, daß ich es
vollkommen verlernt hatte, allerdings gab es damals noch nicht die nämlichen
Maschinen wie heute. Da hier aber alles was Odem hat radelt, möchte ich es auch
wieder aufnehmen. ‒
Grüßen Sie bitte aufs herzlichste Herrn DoctorDr. phil. Carl Heine (siehe oben), Beate Heines Ehemann. von mir. Ich
werde noch auf lange lange Zeit hinaus sein Schuldner bleiben, denn was er für
mich gethan ist, das erfährt man nur einmal im Leben. Mein nächster Ehrgeiz ist
jetzt im Biberpelz gut zu bestehen.
Seien Sie selber, verehrte Frau, herzlichst gegrüßt von
Ihrem Ihnen sehr ergebenen
Frank Wedekind.
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
[…] alea est
iacta! Seit vier Tagen bin ich als Dramaturg und Schauspieler am
Münchner Schauspielhaus engagirt mit 150 M. Fixum pro Monat, derselben Gage,
die ich anfangs bei Ihnen hatte. Der Bestand des Theaters ist bis 1. Juni 99
garantirt. Am 7. oder 15. nächsten Monats beginnen wir zu spielen,
voraussichtlich mit Biberpelz, in dem ich den Dr. Fleischer abgeben werde. Man
fragt mich allgemein, da ich seit meinem Hiersein vorgegeben hatte für den
nächsten Winter bei Ihnen engagirt zu sein, was Sie dazu sagen werden. Ich
entgegne darauf der Wahrheit gemäß, daß Sie es mir zu allerletzt verdenken
werden, wenn ich mein Können anderwärts zu erproben suche, nachdem Sie mich
unter der Gefahr, Fiasko damit zu machen, aus Nacht und Finsternis ans
Tageslicht gezogen haben [...]