Leipzig, 31.VII.1899.
(Untersuchungshaft)
Hochverehrte Freundin und großgütigste Gönnerin!
noch während ich hier abgeschlossen von der Welt sitze und
nachdem Sie mich erst reich beschenkt hatten, hat es Ihnen noch gefallen,
mich zu meinem Geburtstag zu bescheeren. Diese Zeilen schreibe ich auf der
prächtigen Schreibunterlage, die Sie mir von Helgoland aus mit Ihren lieben
ZeilenBegleitbrief zu einem Geburtstagspäckchen [vgl. Beate Heine an Wedekind, 21.7.1899]. geschickt. Ich bedaure nur, Ihnen nun nicht eine Menge angenehmer
Neuigkeiten mittheilen zu können. Andrerseits habe ich das Bedürfnis, Ihnen vor
der Verhandlung noch für die Freundlichkeit, die Sie mir während dieser Zeit
erwiesen, meinen Dank auszusprechen. Mit großem Vergnügen habe ich gelesen, was
Sie mir über Ihr Leben in Helgoland schreiben, und freue mich, daß Sie nach
einem arbeitsvollen Jahr eine so erfrischende Sommerzeit verbringen. Ihre
Begegnung mit Otto Brahm hat mich sehr interessirt. Wie schwer er aufthaut ist
allbekannt und ich glaube, Sie können sich schon etwas darauf einbilden, daß
Sie ihn überhaupt zum Reden gebracht haben. ‒ Seit mehr als drei Wochen zehre ich nun schon von
der LectüreWedekind hatte Bücherwünsche geäußert, die sogleich [vgl. Beate Heine an Wedekind, 15.7.1899] erfüllt worden sind [vgl. Carl Heine an Wedekind, 21.7.1899]., die Sie mir geschickt haben und seit dieser Zeit datirt überhaupt
eine Art von Umschwung zum besseren in meiner Stimmung. Ich hatte nur wirklich
nicht so viel erwartet. Ich hatte Anna Karenina auf nur einen Band und die
Bismarkreden auf 3 oder 4 Bände geschätzt. Statt dessen sind es im Ganzen 11
BändeDie beiden Ausgaben lassen sich nicht eindeutig identifizieren – in Frage kommt für Leo Tolstojs Roman „Anna Karenina“ (1877) eine autorisierte dreibändige Ausgabe (Berlin 1897); für die Reden Otto von Bismarcks kommen eine ganze Reihe an Ausgaben in Frage, die alle zahlreiche Bände umfassen, etwa „Die politischen Reden des Fürsten Bismarck“ (Stuttgart 1892-1905, 14 Bände), „Fürst Bismarck als Redner“ (Berlin 1885-1891, 16 Bände) oder „Fürst Bismarcks Reden“ (Leipzig 1895-1899, 13 Bände)., die mir Ihr Buchhändlernicht identifiziert. geschickt hat. Und nun zu allem noch die schöne
Schreibmappe. Nächsten Donnerstag, 3. August, ist die Verhandlung. Ich hoffe
Ihnen nachher Nachricht geben zu können; das wird von dem UrtheilDie Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Leipzig verurteilte Wedekind am 3.8.1899 wegen Majestätsbeleidigung in den Gedichten „Im heiligen Land“ [Simplicissimus, Jg. 3, Nr. 31, S. 245] und „Meerfahrt“ [Simplicissimus, Jg. 3, Nr. 32, S. 2] zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten [vgl. KSA 1/II, S. 1710], ein Monat Untersuchungshaft wurde davon abgezogen. Die Anklage führte der Oberstaatsanwalt Oberjustizrat Friedrich Hermann Esaias Häntzschel, die Verteidigung der Rechtsanwalt Dr. Kurt Hezel, das Urteil wurde von dem Vorsitzenden, dem Landgerichtsrat Eduard Alfred Adam verkündet. „Zu der Verurtheilung des Schriftstellers Wedekind wegen der Gedichte im ‚Simplicissimus‘ [...] bringt das ‚Leipz. Tgbl.‘ noch das Folgende: [...] Nach Feststellung der Personalien, aus denen nur hervorgehoben sei, daß Wedekind in Hannover wegen Verletzung der Wehrpflicht zu 300 M. Geldstrafe verurtheilt worden ist, ohne daß aber die Strafe bis jetzt zur Vollstreckung gelangte, wurde auf Antrag des Herrn Oberstaatsanwalt die Oeffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit für die ganze Dauer der Sitzung ausgeschlossen. [...] Zu seinen Gunsten wurde seine bisherige Unbescholtenheit angenommen, zu Ungunsten Wedekind’s, daß die Beleidigungen, welche er geradezu geschäftsmäßig betrieben habe, sehr schwere seien und bei der Höhe der Auflage des Simplicissimus eine weite Verbreitung gefunden hätten.“ [Hamburger Nachrichten, Nr. 182, 5.8.1899, Morgen-Ausgabe, S. (4)] abhängen. Im
übrigen geht es mir gut; ich habe eine bei weitem luftigere ZelleWedekind bezog diese Zelle am 24.7.1899 [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 27.7.1899]. erhalten und
die Erlaubnis, für mich zu arbeiten. Aus dem Arbeiten ist freilich noch nicht
viel geworden; ich bin durch das bevorstehende zu absorbirt.
Grüßen Sie Ihren Herrn Gemahl aufs herzlichste und sprechen
Sie ihm bitte meinen besten Dank aus. Ich will schon deshalb froh sein, wenn
diese häßliche Geschichte beendet ist, weil ich dann endlich wieder ein
positives Wort schreiben kann und nicht mehr jeden Vorschlag und jeden Vorsatz
mit einem „Wenn“ verklausuliren muß.
Ich kann nicht gerade behaupten, daß sich während dieser
acht WochenWedekind hatte sich am 2.6.1899 abends den Justizbehörden in Leipzig gestellt und war seitdem inhaftiert. viele Menschen nach mir umgesehen hätten. Sie und mein Freund
Richard, dann kommt lange niemand mehr, sehr lange.
Ich wünsche Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl noch recht viele
frohe Tage in Helgoland, schönes Wetter und das beste Wohlergehen.
Mit den herzlichsten Grüßen Ihr Ihnen treu ergebener
Frank Wedekind.