München, 4.IX.1900.
Meine liebe Freundin!
Ich gratulire!!
Wenn ich während der letzten Monate nicht ein
menschenunwürdiges Dasein geführt hätte, unfähig, etwas zu arbeiten in der
Wüstenei, die sich meine Wohnung nennt, in der es mir an jeder Art menschlichen
Comforts mangelt, so hätt ich Ihre letzten Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 4.8.1900. Es handelte sich um einen Brief (siehe unten), der Wedekinds letzten Brief beantwortete [vgl. Wedekind an Beate Heine, 2.8.1900] und offenbar Ausführungen über Hans von Weber und Kurt Martens enthielt., die mich noch trauriger
stimmten als ich schon war, nicht unbeantwortet gelassen. Ich brachte einfach
den moralischen Muth nicht auf, Ihnen ein Wort zu schreiben. Ich war durch
diese ErbschaftsgeschichteWedekind hatte seit Ende des vergangenen Jahres eine Erbschaft in Aussicht, deren Auszahlung sich jedoch verzögerte (siehe dazu Wedekinds Korrespondenz mit seinem Schwager Walther Oschwald)., die sich zu den fürchterlichsten TantalusqualenQualen dadurch, dass etwas Ersehntes zwar in greifbarer Nähe, aber nicht erreichbar ist (nach dem König Tantalus aus der griechischen Sage, der wegen Frevels gegen die Götter unstillbaren Hunger und Durst leiden musste, obwohl Essen und Trinken zum Greifen nah war).
ausgestaltete, vollkommen demoralisirt. Jetzt zeigt sich ein Lichtblick. Die
nächsten drei Tage können alles ändern. Immerhin bitte ich Sie, auch diese
Zeilen noch nicht als einen „Brief“, als eine Antwort auf Ihre Mittheilungen zu
betrachten. Es fehlt mir jede Ruhe und jede Sammlung, da ich seit fünf Monaten
nur Pech, Pech, Pech, Pech und Pech hatte und nicht eine Secunde freien
Aufathmens. Aber jetzt scheint sich das Wunder in der That erfüllen zu wollen,
nicht daß sich die Erbschaft realisirt hätte ‒ Gott behüte mich! ‒, sondern mein Schwager hat sich bereit erklärt, mir
3000 Mk.Wedekind hatte seine Schwester in Dresden um die Summe von 3000 Mark als Darlehen gebeten [vgl. Frank Wedekind an Erika Wedekind, 24.8.1900 und 28.8.1900]; deren Gatte sagte sie ihm zu [vgl. Walther Oschwald an Wedekind, 1.9.1900], er quittierte dem Schwager die Summe [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 8.9.1900] und dieser bestätigte den Empfang der Quittung [vgl. Walther Oschwald an Wedekind, 9.9.1900]. darauf zu pumpen. Damit werde ich aus der Wüstenei, in der ich seit
fünf Monaten lebe, eine menschliche Wohnung zu machen suchen und werde
versuchen, mich zum gesunden Menschen zurückzubilden, wenn es noch möglich ist.
Aber wie ich mich über die NachrichtenFritz Strich erläuterte hier: „Engagement an das Neue Theater in Berlin.“ [GB 2, S. 358] Die Presse meldete dann allerdings erst am Jahresende, Carl Heine werde das Neue Theater in Berlin pachten, sei aber wegen der Finanzierung noch in Verhandlungen [vgl. Wedekind an Beate Heine, 29.12.1900]. freue, die Sie mir
auf der Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Beate Heine an Wedekind, 2.9.1900. Beate Heine dürfte Wedekind auf der Postkarte berufliche Perspektiven Carl Heines in Berlin mitgeteilt haben (siehe oben). mittheilen, kann ich Ihnen kaum sagen. Ich bin stolz darauf, daß
mich meine Zuversicht nicht betrogen hat. Sagen Sie Ihrem lieben Manne die
allerherzlichsten Glückwünsche. Er hat es ja allerdings weit, weit besser
verdient; aber es ist doch ein Anschluß, es ist ein Sieg über das Geschick; er
geht ohne Unterbrechung den Weg zu seinen Zielen weiter und braucht den Kopf
nicht sinken zu lassen. Vor allem freut mich die künstlerische Anerkennung, die
sich in den Thatsachen documentirte. Also Glück auf! Ich meinerseits lasse den
Kopf auch nicht sinken, aber über Thatsachen läßt sich nicht hinwegphantasiren.
Ich hoffe, Ihnen in den nächsten Tagen in zuversichtlicherem Ton schreiben zu
können.
Der „Marquis von Keith“ erscheint in den nächsten TagenDie vordatierte Buchausgabe von Wedekinds Schauspiel „Marquis von Keith. (Münchener Scenen)“ (1901) im Albert Langen Verlag in München [vgl. KSA 4, S. 425] wurde erst Wochen später als erschienen gemeldet [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 252, 29.10.1900, S. 8812]. bei
Langen als Buch. Selbstverständlich erhalten Sie ihn sofort. Ich fühle mich
Ihnen sehr verpflichtet für das Vertrauen, das Sie mir durch Ihren letzten
Briefnicht überliefert (siehe oben). bewiesen haben. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, am wenigsten
natürlich mit Weber und Martens. Um so gesprächiger werde ich jetzt sein.
Grüßen Sie Ihren lieben Mann auf das herzlichste. Ich bin
trotz der Kürze dieser Zeilen Ihr Ihnen stets ergebener und getreuer
Frank.