[1. Druck:]
München, 10.III.1902.
Hochgeehrte liebe Freundin!
Sie hätten längst schon Nachricht von mir bekommen, wenn ich
Ihnen irgend etwas wirklich Erquickliches über mich zu schreiben gehabt hätte.
Aber die längste Zeit dieses Winters brachte ich in trübseligem Hinbrüten zu;
besonders in Folge der schmählichen Darstellung und des lächerlichen Durchfallsdie Uraufführung des „Marquis von Keith“ am 11.10.1901 im Rahmen des 2. Literarischen Abends am Residenztheater (Direktion: Sigmund Lautenburg) in Berlin unter der Regie von Martin Zickel (mit Fritz Gerhard in der Titelrolle, Marie Reisenhofer als Anna von Werdenfels und Fritz Spira als Ernst Scholz), die Fritz Engel „eine fröhliche Leiche“ [F.E.: Literatur im Residenztheater. „Marquis von Keith“ von Frank Wedekind. In: Berliner Tageblatt, Jg. 30, Nr. 519, 12.10.1901, Morgen-Ausgabe, S. (2)] nannte. Siegfried Jacobsohn meinte in der „Welt am Montag“ vom 14.10.1901: „Frank Wedekind ist in Berlin durchgefallen. Die Premierenrotte [...] hat ihn ausgelacht, [...] weil sie für Unvermögen, für unfreiwillige Komik hielt, was feinstes Raffinement und hohnvoller Zynismus ist.“ [KSA 4, S. 542] Nur wenige Kritiker lasteten den Misserfolg nicht dem Stück, sondern der Inszenierung an, die nach drei Vorstellungen abgesetzt worden sein soll [vgl. KSA 4, S. 534]; das ist nicht nachweisbar, die Presse sprach von einer „einmaligen Aufführung des Schauspiels ‚Marquis von Keith‘ von Frank Wedekind“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 477, 11.10.1901, Morgen-Ausgabe, S. 7].
meines Marquis v. Keith. Dieses Stück ist mir unter allem was ich bis jetzt
produzirt habe, das liebste und ich glaube mit einigem Recht, da am meisten
darin enthalten ist. Daß es mit den Kräften des Residenztheaters nicht zu geben
war, wußte ich im voraus. Aber unser lieber Freund Zickel ließ sich in seinem
Vernichtungsdrang nicht aufhalten. An dieses Berliner Fiasko schloß sich mein
grandioser DurchfallWedekind trat am Eröffnungsabend des von Felix Salten gegründeten Jung-Wiener Theaters Zum lieben Augustin im Theater an der Wien am 16.11.1901 (sowie in den Tagen darauf, bis 22.11.1901) mit dem Vortrag eigener Lieder auf und stieß beim Publikum auf völliges Unverständnis. in Wien, den ich mir weit weniger zu Herzen nahm, zumal
ich damals, um meine Gefühle auszudrücken, mit einem Stück beschäftigt war und Abend für
Abend, nachdem man mich im Theater an der Wien verhöhnt hatte, in der nächsten
Bierkneipe gemüthlich weiterschrieb. Dieses Stück hat nun hier vor 14 TagenDie Uraufführung von „So ist das Leben“ („König Nicolo“) am 22.2.1902 am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) durch den Akademisch-Dramatischen Verein [vgl. KSA 4, S. 632] rief unterschiedliche Reaktionen hervor; Hanns von Gumppenberg zufolge „spaltete sich“ das Publikum „in zwei feindliche Parteien, eine enthusiastisch anerkennende und eine ebenso heftig widersprechende“ [KSA 4, S. 636]. Max Halbe hielt am 23.2.1902 zum Premierenabend fest: „Mit einer ‒ nicht nur in München unerhörten Heftigkeit platzten die Gegensätze im Publikum aufeinander und noch eine Viertelstunde nach Schluß des Stücks setzten sich die Demonstrationen für u. wider den Dichter im Zuschauerraum fort. Um ein Haar wäre es zu Thätlichkeiten gekommen. Wedekind erschien nach dem Fallen des eisernen Vorhangs in der Direktionsloge, v.d. Einen leidenschaftlich gefeiert, von den Andern ebenso leidenschaftlich mit Pfeifen u. Zischen bekämpft.“ [KSA 4, S. 635] das
Licht der Rampe erblickt, aber ob es sich halten wird ist noch sehr die
Frage. Wenn’s gedruckt ist, erhalten Sie es sofort. Mein ganzes inneres
Getriebe werden Sie deutlicher daraus erkennen, als ich es Ihnen hier schildern
könnte. Denn zu alledem kommt nun seit 10 Monaten mein allabendliches Auftreten
als BänkelsängerWedekind trat als Ensemblemitglied der Elf Scharfrichter auf und trug seine Lieder zur Laute vor., eine Rolle, die mir entsetzlich ist und die es Ihnen
gleichfalls wäre, wenn Sie mich darin sähen. Aber sie bringt Geld und ich lebe
davon. Ueber Sie und über Carls ThätigkeitCarl Heine war seit dem Vorjahr als Oberregisseur am Deutschen Schauspielhaus (Direktion: Alfred von Berger) in Hamburg tätig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 374]. in Hamburg habe ich nur Erfreuliches
gehört. Allerdings munkelte man, daß Berger etwas verkitscht sei, aber um so
selbstverständlicher wird sich Carl dafür auf seinem Gebiete der ernsten Kunst
bei ihm stellen können. Wie gerne würde ich wieder einige Zeit in Ihrer Nähe
leben, wie gerne würde ich wieder einmal unter Carls Leitung und Führung
arbeiten. Aber meine RevenuenEinkünfte. sind noch immer nicht der Art, daß ich mich frei
bewegen kann. Man hofft und hofft und hofft von einem Durchfall zum andern, von
einem Scheinerfolg zum andern. Jetzt sind es ungefähr vier Jahre herWedekinds Engagement an Carl Heines Ibsen-Theater 1898 in Leipzig., daß ich
zu Ihnen in Ihre Obhut nach Leipzig kam. Das war der glückliche Umschwung in
meinem Dasein, aber wie langsam dieser Weg aufwärts führt, davon hätte ich mir
nie etwas träumen lassen. Und so wird man alt und dick. Ich sehne mich von
ganzem Herzen zurück nach großen Rollen, nach anstrengender und erschöpfender
Bethätigung. In Ermangelung solcher Genüsse sucht man Trost in den Armen des
Bieres und der Kummerspeck setzt sich an.
Letzten HerbstWedekind dürfte die Schauspieler Max Henze und Arthur Waldemar, die er aus seiner Zeit beim Ibsen-Theater in Leipzig kannte, im Zusammenhang mit der Uraufführung des „Marquis von Keith“ am 11.10.1901 im Residenztheater in Berlin (siehe oben) getroffen haben. traf ich am Berliner Residenztheater Waldemar
sowohl wie Henze; Waldemar voll hochfliegender Pläne wie immer, Henze mit
seinem Geschicke hadernd. Henze und ich schmiedeten damals den Plan in Wien,
bei JarnoJosef Jarno war Direktor des Theaters in der Josefstadt [vgl. Neuer Theater-Almanach 1902, S. 563]. Die Wiener Premiere des „Marquis von Keith“ fand dann tatsächlich dort statt, am 30.4.1903 mit großem Erfolg unter der Regie von Josef Jarno, der auch die Titelrolle spielte. zusammen die Hauptrollen im Marquis von Keith zu spielen, aber die
hereinbrechenden Durchfälle machten sehr bald alle Entwürfe zu nichte, obschon
ich die Ueberzeugung habe, daß unter bescheidenen Verhältnissen das Stück mit
dieser Besetzung unbedingt Erfolg haben müßte. Aber wer lernt je zwischen
Ueberzeugung und Pläsir unterscheiden. Jetzt sehe ich übrigens wieder einer
kleinen Aufregung entgegen. Uebermorgenam 12.3.1902, an dem die Uraufführung von Wedekinds Tanzpantomime „Die Kaiserin von Neufundland“ (1897) bei den Elf Scharfrichtern in München stattfand [vgl. KSA 3/II, S. 794]. Beate Heine dürfte noch in Erinnerung gehabt haben, dass die von der Literarischen Gesellschaft in Leipzig in Aussicht genommene Aufführung [vgl. Kurt Martens an Wedekind, 9.10.1897] nicht zustande gekommen war und Wedekind die Pantomime auch während seines Aufenthalts in Paris 1898/99 nicht auf einer Bühne hatte unterbringen können [vgl. Beate Heine an Wedekind, 20.12.1898 und 20.1.1899]. soll bei den Scharfrichtern hier die
Kaiserin von Neufundland in Scene gehen, natürlich auf das allernothwendigste
zusammen gestrichen, da unsere Bühne für nicht mehr als fünf Menschen auf
einmal Platz hat. Die Sache hat viel Arbeit gekostet, aber im schlimmsten Fall
kann der Schaden wenigstens nicht groß sein.
Grüßen Sie Carl bitte aufs herzlichste von mir. Meine
aufrichtigsten besten Wünsche begleiten meinen lieben Lehrmeister und Freund
auf jedem seiner Schritte. Sehen wir uns diesen Sommer vielleicht in München? Seien
Sie aufs beste gegrüßt, liebe Freundin, von Ihrem alten treu ergebenen
Frank.
[2. Zitat in J. A.
Stargardt: Katalog 695 (2011), Nr. 232:]
Sie hätten längst schon Nachricht von mir bekommen,
wenn ich Ihnen irgend etwas wirklich Erquickliches über mich zu schreiben
gehabt hätte. Aber die längste Zeit dieses Winters brachte ich in trübseligem
Hinbrüten zu; besonders in Folge der schmählichen Darstellung und des
lächerlichen Durchfalls meines Marquis v. Keith. Dieses Stück ist mir unter
allem was ich bis jetzt produziert habe das liebste und ich glaube mit einigem
Recht, da am meisten darin enthalten ist. Daß es mit den Kräften des
Residenztheaters nicht zu geben war, wußte ich im voraus [...] An dieses
Berliner Fiasko schloß sich mein grandioser Durchfall in Wien, den ich mir weit
weniger zu Herzen nahm, zumal ich damals, um meine Gefühle auszudrücken, mit
einem Stück beschäftigt war und Abend für
Abend, nachdem man mich im Theater an der Wien verhöhnt hatte, in der nächsten
Bierkneipe gemütlich weiterschrieb. Dieses Stück hat nun hier vor 14 Tagen das
Licht der Menge erblickt aber ob es sich halten wird ist noch sehr die Frage. Wenn
es gedruckt ist, erhalten Sie es sofort. Mein ganzes inneres Getriebe werden
Sie deutlicher daraus erkennen, als ich es Ihnen hier schildern könnte. Denn zu
alledem kommt nun seit 10 Monaten mein allabendliches Auftreten als
Bänkelsänger, eine Rolle, die mir entsetzlich ist und die es Ihnen gleichfalls
wäre, wenn Sie mich darin sähen. Aber sie bringt Geld und ich lebe davon [...]