Vergleichsansicht

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Kennung: 2755

Aarau, 6. Mai 1881 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Schmidt, Carl

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

V. SCHMIDT-STOCKAR.Carl Schmidts Vater, der Apotheker Valentin Schmidt-Stockar, betrieb in Brugg eine Apotheke mit chemischem Labor.
Chemisches Laboratorium.


Brugg,/Aarau/ den 6. Mai


Lieber Freund Franklin!

Du solltest u. verdiendetestSchreibversehen, statt: verdientest. es von mir gar nicht als „lieber Freund“ angesprochen zu werden. Von fremden Leuten müssen Schibler u. ichWedekinds ehemaliger Klassenkamerad und Intimfreund Oskar Schibler war im Frühjahr 1881 in die III. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau versetzt worden, Carl Schmidt, vertrauter Schulfreund Wedekinds, besuchte im gerade begonnenen Schuljahr 1881/82 die IV. Klasse des Gymnasiums. erfahren, was aus dir werden sollWedekind war im Frühjahr 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums versetzt und daraufhin von der Kantonsschule Aarau abgemeldet worden.. Du willst ein halbes Jahr Privatgelehrter seinWedekind erhielt bis zum Herbst 1881 Privatunterricht auf Schloss Lenzburg., nachher nach Solothurnan die Kantonsschule in Solothurn. abgehen u. schon als Gymnasiast verderben – Buchdrucker werden. Glaube mir, ich bin dein Freund u. ich bin nicht der einzige, der dich zu kennen glaubt. Ob wir dich kennen, weiss ich nicht, denn ich glaube du kennst dich selbst noch nicht, du kennst gar kein Ich u. darum kennst du keinen Gott. Du kannst nicht glücklich werden, wenn Du nicht offen und ehrlich dich bis ins Innerste hinein durchforschest, dich frägst, was bin ich, wozu bin ich. Dass du nicht zu Nichts da bist, hat dich dein guter SternRedewendung für Glück. erkennen lassen. Kennst du etwas von jenem Streben, das uns glücklich machen kann, auch wenn wir verderben in den Augen der Weltmenschen? Deine Talente, dein Geist, sollte dich in diesen Jahren schon längst darauf hingeleitet haben, dich selbst kennen zu lernen, du solltest schon längst deine Ideale gefunden haben. Aber du kennst von alle dem nichts, du setztest einen gewissen Stolz darein PessimistAusführliche Pessimismus-Diskussionen führte Wedekind 1881 in den Korrespondenzen mit Adolf Vögtlin und Oskar Schibler. zu sein. – „Um glücklich zu sein darf der Mensch nicht denken, er darf nur träumen“ Sage lieber „um fett zu werden“ | der Mensch kann auch denken ohne dass er midt gesenktem Haupt und gerunzelter Stirn herumgehen muss, auch der denkende Mensch darf +sein Haupt stolz hoch tragen, auch der derSchreibversehen, statt: der. denkende, nicht nur der träumende Jüngling kann seine Brust sich heben lassen von einem beseligenden Gefühl, von einer Hoffnung auf die Zukunft, wenn er weiss, was er will, wenn er sein ganzes Sein oder vielmehr sein Werden zu concentriren gelernt hat, auf den Punkt, den er sein Ideal nennt. Du kennst noch nichts von diesem Denken, dein Gedanke war immer finster, wie die Nacht, kalt u. frostig, du bist zur Erkenntniss gekommen, dass du denken musstest, um zu sein d. h. um Mensch zu sein, um dasjenige Geschöpf zu werden, das der anatomische Bau deines Gehirnes erfordern musste. Wärest Du nicht zu dieser Erkenntniss gekommen, so wärest du fett geworden d. h. du sässest jetzt in der 3. Cl. Gymn. – Dein Denken war dein Verderben, aber es soll dir auch zum Heile gereichen; erkenne in dir ein Ich, dass dich hinausführt in den harten Kampf des Lebens, dich anspornt zu stiller, emsiger Arbeit: Wisse, was du willst – Mit derselben Feder, mit der ich dir nun schreibe, an dens/ms/elben Tische hat auch der AlteBiername von Adolf Vögtlin. dir ein Lebewohl geschriebenvgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 14.4.1881.. Glaube uns, wir sind deine Freunde, mach nicht, dass du einst zurückschauen musst auf dein Leben, wie auf eine schlecht gespielte Posse, verkannt von der ganzen Welt, weil du dich selbst nie hast kennen lernen wollen. – –

Lebe wohl u. vergiss nicht, dass du noch Freunde hast
dein
C. Schmidt.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 21 x 27 cm. Mit gedrucktem Briefkopf. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brieftext ist von Zeile 9 der Vorderseite „ich glaube du kennst dich [...]“ bis zur Grußzeile auf der Rückseite „[...] kennen lernen wollen. – –“ mit rotem Buntstift durch einen Längsstrich markiert. Das Papier ist am oberen Blattrand ein- und teilweise mit Textverlust ausgerissen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Tag („6“) und Monat („Mai“) sind bekannt. Das Jahr (1881) ist durch den Kontext gesichert.

  • Schreibort

    Aarau
    6. Mai 1881 (Freitag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Aarau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 157
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Carl Schmidt an Frank Wedekind, 6.5.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

27.10.2024 13:32
Kennung: 2755

Aarau, 6. Mai 1881 (Freitag), Brief

Autor*in

  • Schmidt, Carl

Adressat*in

  • Wedekind, Frank
 
 

Inhalt

V. SCHMIDT-STOCKAR.Carl Schmidts Vater, der Apotheker Valentin Schmidt-Stockar, betrieb in Brugg eine Apotheke mit chemischem Labor.
Chemisches Laboratorium.


Brugg,/Aarau/ den 6. Mai


Lieber Freund Franklin!

Du solltest u. verdiendetestSchreibversehen, statt: verdientest. es von mir gar nicht als „lieber Freund“ angesprochen zu werden. Von fremden Leuten müssen Schibler u. ichWedekinds ehemaliger Klassenkamerad und Intimfreund Oskar Schibler war im Frühjahr 1881 in die III. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau versetzt worden, Carl Schmidt, vertrauter Schulfreund Wedekinds, besuchte im gerade begonnenen Schuljahr 1881/82 die IV. Klasse des Gymnasiums. erfahren, was aus dir werden sollWedekind war im Frühjahr 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums versetzt und daraufhin von der Kantonsschule Aarau abgemeldet worden.. Du willst ein halbes Jahr Privatgelehrter seinWedekind erhielt bis zum Herbst 1881 Privatunterricht auf Schloss Lenzburg., nachher nach Solothurnan die Kantonsschule in Solothurn. abgehen u. schon als Gymnasiast verderben – Buchdrucker werden. Glaube mir, ich bin dein Freund u. ich bin nicht der einzige, der dich zu kennen glaubt. Ob wir dich kennen, weiss ich nicht, denn ich glaube du kennst dich selbst noch nicht, du kennst gar kein Ich u. darum kennst du keinen Gott. Du kannst nicht glücklich werden, wenn Du nicht offen und ehrlich dich bis ins Innerste hinein durchforschest, dich frägst, was bin ich, wozu bin ich. Dass du nicht zu Nichts da bist, hat dich dein guter SternRedewendung für Glück. erkennen lassen. Kennst du etwas von jenem Streben, das uns glücklich machen kann, auch wenn wir verderben in den Augen der Weltmenschen? Deine Talente, dein Geist, sollte dich in diesen Jahren schon längst darauf hingeleitet haben, dich selbst kennen zu lernen, du solltest schon längst deine Ideale gefunden haben. Aber du kennst von alle dem nichts, du setztest einen gewissen Stolz darein PessimistAusführliche Pessimismus-Diskussionen führte Wedekind 1881 in den Korrespondenzen mit Adolf Vögtlin und Oskar Schibler. zu sein. – „Um glücklich zu sein darf der Mensch nicht denken, er darf nur träumen“ Sage lieber „um fett zu werden“ | der Mensch kann auch denken ohne dass er midt gesenktem Haupt und gerunzelter Stirn herumgehen muss, auch der denkende Mensch darf +sein Haupt stolz hoch tragen, auch der derSchreibversehen, statt: der. denkende, nicht nur der träumende Jüngling kann seine Brust sich heben lassen von einem beseligenden Gefühl, von einer Hoffnung auf die Zukunft, wenn er weiss, was er will, wenn er sein ganzes Sein oder vielmehr sein Werden zu concentriren gelernt hat, auf den Punkt, den er sein Ideal nennt. Du kennst noch nichts von diesem Denken, dein Gedanke war immer finster, wie die Nacht, kalt u. frostig, du bist zur Erkenntniss gekommen, dass du denken musstest, um zu sein d. h. um Mensch zu sein, um dasjenige Geschöpf zu werden, das der anatomische Bau deines Gehirnes erfordern musste. Wärest Du nicht zu dieser Erkenntniss gekommen, so wärest du fett geworden d. h. du sässest jetzt in der 3. Cl. Gymn. – Dein Denken war dein Verderben, aber es soll dir auch zum Heile gereichen; erkenne in dir ein Ich, dass dich hinausführt in den harten Kampf des Lebens, dich anspornt zu stiller, emsiger Arbeit: Wisse, was du willst – Mit derselben Feder, mit der ich dir nun schreibe, an dens/ms/elben Tische hat auch der AlteBiername von Adolf Vögtlin. dir ein Lebewohl geschriebenvgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 14.4.1881.. Glaube uns, wir sind deine Freunde, mach nicht, dass du einst zurückschauen musst auf dein Leben, wie auf eine schlecht gespielte Posse, verkannt von der ganzen Welt, weil du dich selbst nie hast kennen lernen wollen. – –

Lebe wohl u. vergiss nicht, dass du noch Freunde hast
dein
C. Schmidt.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 3 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Rautiertes Papier. 21 x 27 cm. Mit gedrucktem Briefkopf. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Brieftext ist von Zeile 9 der Vorderseite „ich glaube du kennst dich [...]“ bis zur Grußzeile auf der Rückseite „[...] kennen lernen wollen. – –“ mit rotem Buntstift durch einen Längsstrich markiert. Das Papier ist am oberen Blattrand ein- und teilweise mit Textverlust ausgerissen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Tag („6“) und Monat („Mai“) sind bekannt. Das Jahr (1881) ist durch den Kontext gesichert.

  • Schreibort

    Aarau
    6. Mai 1881 (Freitag)
    Ermittelt (sicher)

  • Absendeort

    Aarau
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 157
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Carl Schmidt an Frank Wedekind, 6.5.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

27.10.2024 13:32