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Februar 28.83. Solothurn.
Mein Franklin!
Mit Interesse habe ich Dein
Es ist 12 Uhr eben komme ich aus der Kneipe nach Hause &
blicke von dem Fenster meiner Bude hinauf zu den Sternen. Es muss etwas geben
was| dies regiert: Nichts ohne Ursache & der Menschengeist ist zu gering
ihn zu fühlen noch zu begreifen. Und diesen Morgen nach nüchterner reiflicher
Ueberlegung drängt sich mir der Gedanke auf. Nein man braucht ihn nicht, wo
Materie da Kraft. Gott hat sich uns aber nie anders als Kraft geoffenbart, oder
vielmehr wird Schreibversehen, statt: wir. haben aus
Kraft Gott gemacht. Gott hat keinen Platz in der Welt. Gott soll die Welt erschaffen haben aus
Nichts. Wo Nichts ist kann selbst Gott nicht existiren sobald man aber annimmt
Gott war da so war auch schon die Welt da ohne sein zuthun. Braucht es
überhaupt eine Erschaffung kann nicht dieser unendliche, gefüllte Raum Welt
genannt seit Ewigkeit existirt haben & ebenso fortexistiren. Ein Nichts
kann ich mir nicht vorstellen, denn es haften immereSchreibversehen, statt: immer. räumliche Formen daran, es gibt nur ein Sein.
Es interessirt nicht ob ich auf meinem Todtbette meinen Körper Gott oder der
Erde anemphelenSchreibversehen, statt: anempfehlen. werde.
Du hast bei Deinem Gebete den Kirchen gott mit dem Weltgeiste vermischt, doch immer noch etwas
Kinderschuhe.
Prüfe selbst.
(Doch der Brief muss zu Ende verzeihe meine Rücksichtslosigkeit) Oskar Schibler schrieb: Rücksichts-)losigkeit; nach dem Trennzeichen und der Klammer am Zeilenende ist der Rest des Wortes in die nachfolgende Zeile gerückt. |
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Lass Dir folgendes Wort als Talismann Schreibversehen, statt: Talisman; Glücksbringer. – Oskar Schibler stand selbst kurz vor der Maturaprüfung, die er im Sommer 1883 erfolgreich an der Kantonsschule Solothurn absolvierte. bei der MaturitätAn der Kantonsschule Aarau standen die schriftlichen und mündlichen Jahresprüfungen und für Wedekind der Übergang in die IV. Klasse, die mit dem Maturaexamen endete, bevor; erneut war die Versetzung gefährdet. Auf dem Jahreszeugnis im April 1883 wurde schließlich festgehalten: „Provisorisch promoviert mit Protest im Französischen. Die Maturität ist zweifelhaft.“ In Mathematik (Note 4–3) fehle es ihm „an Fleiss u Energie!!“ in Chemie sei er „von der Note 1 im 1.ten Quartal aus Mangel an Fleiss [...] auf die Note 4 gesunken.“ [Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170] gesagt sein: Mit meinem Schädel fordre ich die
Maturitätscomission in die Schranken!
Aus dem Rahmen einer Todesanzeige blickt uns eine ganze
Bildergallerie an.
Nicht einmal einen vernünftigen logisch zusammenhängenden
Brief kann ich mehr schreiben. Ich sehne mich fort von hier zu Dir um vergessen zu können um
das Gleichgewicht wiederherzustellen ohne welches mich alles anekelt. Mögen uns
gute Götter das blaue Himmelszelt erhalten, um spielend wie Kinder darunter in
allen Höhen & Tiefen vergessend glücklich zu sein.
[Am linken Rand um 90
Grad gedreht:]
Schreib nur eine Karte ich werde Dir dann wieder antworten,
wir haben hier auch viel zu thun & es thut so wohl. Viele Grüsse an Deine
werthen Eltern
& Geschwister.
Leb wohl Franklin
Dein
Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben
Solothurn
28. Februar 1883 (Mittwoch)
Sicher
Solothurn
Datum unbekannt
Datum unbekannt
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia
Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13
Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.
Oskar Schibler an Frank Wedekind, 28.2.1883. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (25.10.2025).
Anke Lindemann