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Kennung: 5468

München, 6. November 1884 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Koautoren*in

Adressat*in

  • Jahn, Bertha

Inhalt

München 6.XI. 84.

Liebe Tante,

In heiterster Gesellschaft und mit sehr schlechtem Humor kam ich vor acht Tagenetwa am 29.10.1884; die Vorlesungszeit begann an der Ludwig-Maximilians Universität im Wintersemester 1884/85 am 3.11.1884 [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85, S. 3]. in München an. Die ÜbrigenWalther Oschwald, der wie Frank Wedekind in München ein Studium der Rechte aufnahm, und Armin Wedekind, der in München sein Medizinstudium fortsetzte. spielten Karten im Coupée und überließen mir das heftige Bedauern, es nicht zu können; und die Gedanken, in die mich die Langeweile versenkte, waren eben nicht die rosigsten. Das gab sich aber alles schon beim Aussteigen, denn CalameLouis (Ludwig) Calame studierte seit Sommer 1882 an der Königlichen Kunstgewerbeschule in München (Dekorationsmaler). Mit seinen jüngeren Geschwistern war er nach dem Tod seiner Eltern (1777) von Verwandten (Emma Bertschinger, geb. Hünerwadel) in Lenzburg aufgenommen worden und hatte bis 1880 die Bezirksschule in Lenzburg besucht. Sein Bruder Albert war mit Frank Wedekinds Bruder William Lincoln befreundet. – Louis Calame wurde 1887 Lehrer an der Kunstgewerbeschule Köln und 1897 Professor für Stillehre, gewerbliches Zeichen und Malen am Technikum Winterthur. und H Franz HolperFranz Holper studierte an der Kunstakademie München. Er war ein Sohn von Bertha Jahns Schwägerin Emma Holper, geb. Jahn, in München. empfingen uns, WalterWalter Oschwald, Frank Wedekinds Jugend- und Schulfreund aus Lenzburg, war Neffe Bertha Jahns; 3 Jahre lang besuchte er mit Ludwig Calame dieselbe Klasse der Bezirksschule Lenzburg. besorgte die Vorstellung und wenige | Minuten später saßen wir schon hinter Münchner Bier, sprachen von München, und s. w. via Lindau Romanshorn von Lenzburg, von den Fenstern im 2. Stock vorn heraus; ich bekam Gelegenheit Ihre werthen Grüße zu melden und vergaß dabei keineswegs der speciellenLisa Jahn hatte sich bei einem Besuch in München in ihren Cousin Franz Holper verliebt [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884]. von Frl. Lisa, und mir war bei alledem ganz heimisch zu Muthe. – Herr Holper machte auf mich einen ganz vortrefflichen Eindruck, und ich wünsche nichts, inniger, als daß dies auf Gegenseitigkeit beruhen möchte. Seine Augen und das charakteristische Minenenspiel im Sprechen kam mir sofort ganz bekannt vor; erinnerte es mich doch an die hochwerthe Familie Jahn in Lenzburg sowohl im Allgemeinen, wie auch im Besonderen. Die drei Briefe und die Photographien, die ich bei mir trug, erlaubtSchreibversehen, statt: erlaubte. ich mir, ihm +/g/leich ein|zuhändigen; leider konnt’ ich letzten Sonntagden 2.11.1884. meine beabsichtigte Visite nicht machen, da mein Koffer noch nicht angekommen war. Morgen oder übermorgen wird mich Walter wol hinführen und wir werden dann unsere Aufträge zusammen ausrichten. Da ich Herrn Holper seit jenem Abend nicht wiedergesehn und ebenso wenig Calame, so fand ich auch keine Gelegenheit, nach Thierköpfen zu fragen. Aber ich hoffe, Ihnen bei Nächsten/m/ darüber Nachricht geben zu können. –

München ist eine pompöse Stadt, in der ich die ersten drei Tage wie ein Träumender umherirrte und vor lauter Eindruck nicht zum Ausdruck kam, so daß Walter und Armin die Köpfe zusammensteckten und meinten, der Abschied von Zuhause müsste mir doch recht schwer geworden sein. Jetzt hab ich mich schon ein wenig besser hineind/g/efunden und | besuche tagtäglich einige Kirchen und mehrere Paläste, ohne damit zu Ende zu kommen. Die Krone von allem ist aber doch das Theater. Im Nationaltheater waren wir zwar noch nicht, denn seine Majestät der König sind hier und lassen sich darin privatim vorspielen und vortanzen. Dagegen waren wir erst gestern wieder im Residenztheater, einem wahren Juwel, einem schimmernden Opal, der hundert schöne Farben spielt. Es wurde ein Lustspiel von Benedix ganz ausgezeichnetAm 5.11.1884 (7 bis 9 Uhr) wurde im Königlichen Residenztheater „Wegen Unpäßlichkeit des Herrn Herz statt des angezeigten Stückes ‚Das Stiftungsfest‘: Das Gefängniß. Lustspiel in vier Aufzügen von Roderich Benedix“ gespielt „In Scene gesetzt vom K[öniglichen] Regisseur Herrn Richter.“ [Königliches Hof- und National-Theater (München): Königliches Hof- und Nationaltheater. 1884, S. (674)] gegeben, so daß es mich lebhaft an Lenzburg erinnerte. Aber nächsten SonntagAuf dem Theaterzettel wurde für Sonntag, den 9.11.1884, Friedrich Schillers Trauerspiel „Maria Stuart“ im Hoftheater angekündigt [vgl. Königliches Hof- und National-Theater (München): Königliches Hof- und Nationaltheater. 1884, S. (674)], das anlässlich des „25-jährigen Bestehens der deutschen Schiller-Stiftung zu deren Besten[ a]ußer Abonnement mit ermäßigten Preisen“ [ebd., S. (686)] ebenfalls unter der Regie Richters aufgeführt wurde. ist „Maria Stuart“, und da freu’ ich mich schon jetzt auf die lebhafte Überzeugung, daß selbst die größte Meisterschaft an einem/n/ lebhaften schönen Eindruck aus früher JugendzeitDas Lenzburger Laientheater hatte 1876 Schillers Schauspiel mit der offenbar begnadeten Laiendarstellerin Fanny Oschwald-Ringier, der Schwester Bertha Jahns, in der Hauptrolle aufgeführt. Das mit großem Eifer einstudierte Drama wurde „ein Höhepunkt in der Theatergeschichte Lenzburgs [...] Von weit her kamen zu diesem Anlaß Zuschauer, die des Lobes voll waren über diese erstaunlich gute Leistung.“ [Martha Ringier: FANNY OSCHWALD-RINIGER 1840-1918. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Bd. 13, 1942, S. 14] nicht heranreicht.

Walter Oschwald haben mein Bruder und ich sehr viel zu danken, denn er ging | uns in jeder Beziehung so hülfreich zur Hand, daß ich mir kaum denken kann, wie wir ohne seine Führung uns zurecht gefunden hätten. Gestern waren wir zu Dritt in der Gräflich Schack’schen GallerieDie Gemäldesammlung des Grafen Adolf Friedrich Schack befand sich in seinem Palais an der Brienner Straße 19 und war seit 1865 öffentlich zugänglich [vgl. https://www.pinakothek.de/de/sammlung-schack].. Leider kann ich Ihnen, liebe Tante, nichts davon erzählen, denn vor lauter Bäumen von konnt’ ich factisch den Wald nicht sehn und muß jedenfalls noch einige Mal dadurch wandeln bis ich im Kopf behalte, was mir gefiel und auffiel. – Überhaupt wär’ ich Ihnen, hochverehrte Tante, sehr dankbar, wenn Sie mir Berichte über all’ das Schöne, womit die hohe Kunst mich überhäuft, erlassen würden; denn einmal ist<Loch: ist> mir das Briefpapier viel zu lieb, als daß ich es an Dinge verschwenden möchte, die man auf jeden/m/ schlechten Druckbogen besser liest, und sodann werden Sie ja das alles mit eigenen Augen sehen, wenn Sie über kurz oder lang nach München kommen, und da möcht’ ich | Ihnen dann nicht durch mein unreifes Geplauder schon der/n/ ersten Eind/D/ruck verdorben haben. –

Hoffentlich ergeht es Ihnen, liebe Tante, und all’ den Ihrigen recht wohl und herrscht strahlt d noch immer ungetrübt der milde Sonnenschein in der traulichen LöwengrubeAnspielung auf eine Strophe in Wedekinds Widmungsgedicht „Seiner lieben Tante Frau Bertha Jahn [...]“: „Ich aber stehe hier in dieser Stube / Ganz einsam unter wilder Löwenbrut; – / Wie einst dem Daniel in der Löwengrube / So sind auch mir die Löwen alle gut.“ [Wedekind an Bertha Jahn, 18.10.1884]. Gemeint sein dürfte Bertha Jahns Haus, die Löwenapotheke in Lenzburg, sowie die Familie Jahn, die verwitwete Bertha Jahn mit ihren vier Kindern Viktor, Lisa, Hanna und Ernst.. Hier in München giebt es zwar auch eineEine Löwenapotheke gab es in München in der Utzschneiderstraße 14, Besitzer Alfons Buchner [vgl. Adreßbuch für München, 1884, Teil IV, S. 10] Auch gibt es eine Straße mit Namen ‚Die Löwengrube‘ in München, die aber keine auffälligen Einträge zeigt [Adreßbuch für München, 1884, S. 284-286] Schließlich könnte Wedekind auch auf Löwenbräu, die älteste Münchner Brauerei in der Nymphenburgerstr. 72, oder den Bayrischen Löwen in der Bayerstr. 3 von Anna Mathäser Bezug genommen haben [vgl. Adreßbuch für München, 1884, Teil IV, S. 20]., aber Daniel‚Daniel in der Löwengrube‘ gehört zu den beliebten biblischen Erzählungen. Mit Gottvertrauen gelingt es Daniel, der über Nacht in einer Löwengrube gefangen gehalten wird, am nächsten Morgen unversehrt frei zu kommen [vgl. Daniel 6]. ist noch nicht hineingegangen. Das Bier soll dari/ort/ nicht so gut sein, wie an anderen Orten und die Löwen wahrscheinlich auch nicht. – Tausend Grüße an Sie, liebe Tante, und Ihre ganze hochwerthe Familie. Meine Empfehlungen an Frl. Lisa und einen recht schönen Extragruß an Hanna, die lustige Komödiantin. Grüßen Sie mir auch Lenzburg, das süße, sonnige Städtchen, und Herrn Schrödernicht identifiziert; möglicherweise der Nachfolger Adolf Spilkers in der Löwenapotheke Lenzburg., erlaub’ ich mir, e/f/ür seinen sinnigen Scherz ein ganz Specielles in Münchner Bier zu vorzukommen. – Ich bin in kindlicher Ergebenheit Ihr dankbarer Neffe Franklin.


[Am rechten oberen Rand von Seite 1 um 90 Grad gedreht:]

Für den Fall, daß Sie, liebe Tante mich vielleicht einmal mit einigen freundlichen Worten beehren wollen, gestatte ich mir, Ihnen meine Adresse hier beizufügen.

F W.
Türkenstraße 30. Rückgebäude.
München.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. 1 Doppelblatt. 2 Seiten beschrieben. Seitenmaß 14 x 21,5 cm. 1 Blatt. 2 Seiten beschrieben. 14 x 22 cm. Alle gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 1 hat Wedekind am oberen rechten Rand ein Postskript eingefügt (hier wiedergegeben). Der linke Rand des Einzelblatts ist mit der Hand abgerissen, der obere Rand leicht eingerissen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    6. November 1884 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
68-70
Briefnummer:
17
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 197
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Bertha Jahn, 6.11.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (29.09.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

04.09.2024 14:58
Kennung: 5468

München, 6. November 1884 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Koautoren*in

Adressat*in

  • Jahn, Bertha
 
 

Inhalt

München 6.XI. 84.

Liebe Tante,

In heiterster Gesellschaft und mit sehr schlechtem Humor kam ich vor acht Tagenetwa am 29.10.1884; die Vorlesungszeit begann an der Ludwig-Maximilians Universität im Wintersemester 1884/85 am 3.11.1884 [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Winter-Semester 1884/85, S. 3]. in München an. Die ÜbrigenWalther Oschwald, der wie Frank Wedekind in München ein Studium der Rechte aufnahm, und Armin Wedekind, der in München sein Medizinstudium fortsetzte. spielten Karten im Coupée und überließen mir das heftige Bedauern, es nicht zu können; und die Gedanken, in die mich die Langeweile versenkte, waren eben nicht die rosigsten. Das gab sich aber alles schon beim Aussteigen, denn CalameLouis (Ludwig) Calame studierte seit Sommer 1882 an der Königlichen Kunstgewerbeschule in München (Dekorationsmaler). Mit seinen jüngeren Geschwistern war er nach dem Tod seiner Eltern (1777) von Verwandten (Emma Bertschinger, geb. Hünerwadel) in Lenzburg aufgenommen worden und hatte bis 1880 die Bezirksschule in Lenzburg besucht. Sein Bruder Albert war mit Frank Wedekinds Bruder William Lincoln befreundet. – Louis Calame wurde 1887 Lehrer an der Kunstgewerbeschule Köln und 1897 Professor für Stillehre, gewerbliches Zeichen und Malen am Technikum Winterthur. und H Franz HolperFranz Holper studierte an der Kunstakademie München. Er war ein Sohn von Bertha Jahns Schwägerin Emma Holper, geb. Jahn, in München. empfingen uns, WalterWalter Oschwald, Frank Wedekinds Jugend- und Schulfreund aus Lenzburg, war Neffe Bertha Jahns; 3 Jahre lang besuchte er mit Ludwig Calame dieselbe Klasse der Bezirksschule Lenzburg. besorgte die Vorstellung und wenige | Minuten später saßen wir schon hinter Münchner Bier, sprachen von München, und s. w. via Lindau Romanshorn von Lenzburg, von den Fenstern im 2. Stock vorn heraus; ich bekam Gelegenheit Ihre werthen Grüße zu melden und vergaß dabei keineswegs der speciellenLisa Jahn hatte sich bei einem Besuch in München in ihren Cousin Franz Holper verliebt [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 16.7.1884]. von Frl. Lisa, und mir war bei alledem ganz heimisch zu Muthe. – Herr Holper machte auf mich einen ganz vortrefflichen Eindruck, und ich wünsche nichts, inniger, als daß dies auf Gegenseitigkeit beruhen möchte. Seine Augen und das charakteristische Minenenspiel im Sprechen kam mir sofort ganz bekannt vor; erinnerte es mich doch an die hochwerthe Familie Jahn in Lenzburg sowohl im Allgemeinen, wie auch im Besonderen. Die drei Briefe und die Photographien, die ich bei mir trug, erlaubtSchreibversehen, statt: erlaubte. ich mir, ihm +/g/leich ein|zuhändigen; leider konnt’ ich letzten Sonntagden 2.11.1884. meine beabsichtigte Visite nicht machen, da mein Koffer noch nicht angekommen war. Morgen oder übermorgen wird mich Walter wol hinführen und wir werden dann unsere Aufträge zusammen ausrichten. Da ich Herrn Holper seit jenem Abend nicht wiedergesehn und ebenso wenig Calame, so fand ich auch keine Gelegenheit, nach Thierköpfen zu fragen. Aber ich hoffe, Ihnen bei Nächsten/m/ darüber Nachricht geben zu können. –

München ist eine pompöse Stadt, in der ich die ersten drei Tage wie ein Träumender umherirrte und vor lauter Eindruck nicht zum Ausdruck kam, so daß Walter und Armin die Köpfe zusammensteckten und meinten, der Abschied von Zuhause müsste mir doch recht schwer geworden sein. Jetzt hab ich mich schon ein wenig besser hineind/g/efunden und | besuche tagtäglich einige Kirchen und mehrere Paläste, ohne damit zu Ende zu kommen. Die Krone von allem ist aber doch das Theater. Im Nationaltheater waren wir zwar noch nicht, denn seine Majestät der König sind hier und lassen sich darin privatim vorspielen und vortanzen. Dagegen waren wir erst gestern wieder im Residenztheater, einem wahren Juwel, einem schimmernden Opal, der hundert schöne Farben spielt. Es wurde ein Lustspiel von Benedix ganz ausgezeichnetAm 5.11.1884 (7 bis 9 Uhr) wurde im Königlichen Residenztheater „Wegen Unpäßlichkeit des Herrn Herz statt des angezeigten Stückes ‚Das Stiftungsfest‘: Das Gefängniß. Lustspiel in vier Aufzügen von Roderich Benedix“ gespielt „In Scene gesetzt vom K[öniglichen] Regisseur Herrn Richter.“ [Königliches Hof- und National-Theater (München): Königliches Hof- und Nationaltheater. 1884, S. (674)] gegeben, so daß es mich lebhaft an Lenzburg erinnerte. Aber nächsten SonntagAuf dem Theaterzettel wurde für Sonntag, den 9.11.1884, Friedrich Schillers Trauerspiel „Maria Stuart“ im Hoftheater angekündigt [vgl. Königliches Hof- und National-Theater (München): Königliches Hof- und Nationaltheater. 1884, S. (674)], das anlässlich des „25-jährigen Bestehens der deutschen Schiller-Stiftung zu deren Besten[ a]ußer Abonnement mit ermäßigten Preisen“ [ebd., S. (686)] ebenfalls unter der Regie Richters aufgeführt wurde. ist „Maria Stuart“, und da freu’ ich mich schon jetzt auf die lebhafte Überzeugung, daß selbst die größte Meisterschaft an einem/n/ lebhaften schönen Eindruck aus früher JugendzeitDas Lenzburger Laientheater hatte 1876 Schillers Schauspiel mit der offenbar begnadeten Laiendarstellerin Fanny Oschwald-Ringier, der Schwester Bertha Jahns, in der Hauptrolle aufgeführt. Das mit großem Eifer einstudierte Drama wurde „ein Höhepunkt in der Theatergeschichte Lenzburgs [...] Von weit her kamen zu diesem Anlaß Zuschauer, die des Lobes voll waren über diese erstaunlich gute Leistung.“ [Martha Ringier: FANNY OSCHWALD-RINIGER 1840-1918. In: Lenzburger Neujahrsblätter, Bd. 13, 1942, S. 14] nicht heranreicht.

Walter Oschwald haben mein Bruder und ich sehr viel zu danken, denn er ging | uns in jeder Beziehung so hülfreich zur Hand, daß ich mir kaum denken kann, wie wir ohne seine Führung uns zurecht gefunden hätten. Gestern waren wir zu Dritt in der Gräflich Schack’schen GallerieDie Gemäldesammlung des Grafen Adolf Friedrich Schack befand sich in seinem Palais an der Brienner Straße 19 und war seit 1865 öffentlich zugänglich [vgl. https://www.pinakothek.de/de/sammlung-schack].. Leider kann ich Ihnen, liebe Tante, nichts davon erzählen, denn vor lauter Bäumen von konnt’ ich factisch den Wald nicht sehn und muß jedenfalls noch einige Mal dadurch wandeln bis ich im Kopf behalte, was mir gefiel und auffiel. – Überhaupt wär’ ich Ihnen, hochverehrte Tante, sehr dankbar, wenn Sie mir Berichte über all’ das Schöne, womit die hohe Kunst mich überhäuft, erlassen würden; denn einmal ist<Loch: ist> mir das Briefpapier viel zu lieb, als daß ich es an Dinge verschwenden möchte, die man auf jeden/m/ schlechten Druckbogen besser liest, und sodann werden Sie ja das alles mit eigenen Augen sehen, wenn Sie über kurz oder lang nach München kommen, und da möcht’ ich | Ihnen dann nicht durch mein unreifes Geplauder schon der/n/ ersten Eind/D/ruck verdorben haben. –

Hoffentlich ergeht es Ihnen, liebe Tante, und all’ den Ihrigen recht wohl und herrscht strahlt d noch immer ungetrübt der milde Sonnenschein in der traulichen LöwengrubeAnspielung auf eine Strophe in Wedekinds Widmungsgedicht „Seiner lieben Tante Frau Bertha Jahn [...]“: „Ich aber stehe hier in dieser Stube / Ganz einsam unter wilder Löwenbrut; – / Wie einst dem Daniel in der Löwengrube / So sind auch mir die Löwen alle gut.“ [Wedekind an Bertha Jahn, 18.10.1884]. Gemeint sein dürfte Bertha Jahns Haus, die Löwenapotheke in Lenzburg, sowie die Familie Jahn, die verwitwete Bertha Jahn mit ihren vier Kindern Viktor, Lisa, Hanna und Ernst.. Hier in München giebt es zwar auch eineEine Löwenapotheke gab es in München in der Utzschneiderstraße 14, Besitzer Alfons Buchner [vgl. Adreßbuch für München, 1884, Teil IV, S. 10] Auch gibt es eine Straße mit Namen ‚Die Löwengrube‘ in München, die aber keine auffälligen Einträge zeigt [Adreßbuch für München, 1884, S. 284-286] Schließlich könnte Wedekind auch auf Löwenbräu, die älteste Münchner Brauerei in der Nymphenburgerstr. 72, oder den Bayrischen Löwen in der Bayerstr. 3 von Anna Mathäser Bezug genommen haben [vgl. Adreßbuch für München, 1884, Teil IV, S. 20]., aber Daniel‚Daniel in der Löwengrube‘ gehört zu den beliebten biblischen Erzählungen. Mit Gottvertrauen gelingt es Daniel, der über Nacht in einer Löwengrube gefangen gehalten wird, am nächsten Morgen unversehrt frei zu kommen [vgl. Daniel 6]. ist noch nicht hineingegangen. Das Bier soll dari/ort/ nicht so gut sein, wie an anderen Orten und die Löwen wahrscheinlich auch nicht. – Tausend Grüße an Sie, liebe Tante, und Ihre ganze hochwerthe Familie. Meine Empfehlungen an Frl. Lisa und einen recht schönen Extragruß an Hanna, die lustige Komödiantin. Grüßen Sie mir auch Lenzburg, das süße, sonnige Städtchen, und Herrn Schrödernicht identifiziert; möglicherweise der Nachfolger Adolf Spilkers in der Löwenapotheke Lenzburg., erlaub’ ich mir, e/f/ür seinen sinnigen Scherz ein ganz Specielles in Münchner Bier zu vorzukommen. – Ich bin in kindlicher Ergebenheit Ihr dankbarer Neffe Franklin.


[Am rechten oberen Rand von Seite 1 um 90 Grad gedreht:]

Für den Fall, daß Sie, liebe Tante mich vielleicht einmal mit einigen freundlichen Worten beehren wollen, gestatte ich mir, Ihnen meine Adresse hier beizufügen.

F W.
Türkenstraße 30. Rückgebäude.
München.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Liniertes Papier. 1 Doppelblatt. 2 Seiten beschrieben. Seitenmaß 14 x 21,5 cm. 1 Blatt. 2 Seiten beschrieben. 14 x 22 cm. Alle gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Auf Seite 1 hat Wedekind am oberen rechten Rand ein Postskript eingefügt (hier wiedergegeben). Der linke Rand des Einzelblatts ist mit der Hand abgerissen, der obere Rand leicht eingerissen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    6. November 1884 (Donnerstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
68-70
Briefnummer:
17
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 197
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Bertha Jahn, 6.11.1884. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (29.09.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

04.09.2024 14:58