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Kennung: 5477

München, 26. April 1886 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm

Inhalt

München, Ostermontagder 26.4.1886., 86.


Lieber Papa,

herzlichen Dank für Deinen lieben Briefvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 20.4.1886 (Briefzitat). und für das MonatsgeldWedekind erhielt von seinem Vater als Student 120 Mark pro Monat [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886].. Die Ferien sind mir hier ziemlich eintönig vorübergegangen, indem ich keine weiteren Ausflüge unternommen habe. Das war auch wegen der im höchsten Grade unbeständigen Witterung gän fast unmöglich. Indessen hab ich mich die ganze Zeit über ernstlich beschäftigt und dabei doch nicht unterlassen auf vielen Spaziergängen | in die nächst UmgebungSchreibversehen, statt: nächste Umgebung. den aufkeimenden Frühling zu beobachten. Heute hat nun das neue Semester begonnen aber die Vorlesungen werden erst während des Laufes dieser Woche wieder aufgenommen. Das Semester dauert nur 3 ½ Monat und darum gedenk ich nicht viel zu belegen; ich habe immerhin Gelegenheit nebenher noch einige Publiceöffentliche Vorlesungen. zu besuchen und anderweitig zu hospitiren. Ich höre 5stündig Deutsches Handels Wechsel und Seerecht, fünfstündig Kirchenrecht und vierstündig System der Staatswissenschaft und Politik, zusammen 14 Stunden à 4 Mark 56 M = 70 Fr. dazu 6 M für | Umschreiben der Matrikel.

Was Du mir über die beiden jungen Hannoveranerdie Brüder Gustav Henckell, seit 1886 Konservenfabrikant in Lenzburg (Henckell, Zeiler und Cie, später Hero), und Karl Henckell, Schriftsteller, der aufgrund von politischer Verfolgung im Deutschen Reich im April 1886 nach Lenzburg gekommen war. in Lenzburg schriebst hat mich sehr interessirt und ich bin gespannt, die Herren nächsten Sommer k/s/elber kennen zu lernen. Von dem UnglückMoritz Dürr war bei einer Wanderung in den Schweizer Bergen tödlich verunglückt. Wedekind hatte Meldungen dazu aus nicht näher identifizierten Zeitungen ausgeschnitten und aufbewahrt [vgl. Mü FW B 35]; darin hieß es: „Soeben vernehmen wir die Trauerbotschaft, daß letzten Sonntag den 18. dieß der 23jährige talentvolle Kunstschüler der Akademie von München, Moriz Dürr von Burgdorf, Großsohn des Med. Dr. Häusler sel. und ehemaliger Schüler der Lenzburger Bezirksschule am großen Mythen bei Schwyz verunglückt ist.“ Über den Unfallhergang hieß es in einer anderen Meldung: „Vier Mann suchten ihn […] und folgten den Spuren seiner Fußtritte im Schnee. […] in die Kehlen gegen Zwischen-Mythen war aus dem Mythenwege eine große Schneemasse abgestürzt; sie ist unter Dürr’s Schritten, trotz dessen Vorsicht, gewichen, so daß der unglückliche Mann mit der Lawine unrettbar die fürchterliche Fahrt in die Tiefe machen mußte.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 26, Nr. 116, 27.4.1886, Erstes Blatt, S. 2] Schließlich meldete die Presse den Fund des Leichnams: „Die Leiche des Malers Dürr von Burgdorf, welcher trotz allseitiger Abmahnung den Mythen bestieg und verunglückte, ist laut ‚Luz. Tagbl.‘ letzten Samstag Abends im tiefen Schnee am Fuße des Kegels im sogenannten ‚Wannenweidli‘ ziemlich verstümmelt aufgefunden und am Montag nach Burgdorf überführt worden.“ [Der Bund, Jg. 37, Nr. 116, 28.4.1886, S. (4)] Wedekind ging später davon aus, dass Moritz Dürr mit dieser Wanderung „planmäßig an die Ausführung seines Selbstmordgedankens“ [Josef M. Jurinek: Frank Wedekinds literarische Anfänge. Unveröffentlichte Bekenntnisse des Dichters, in: Neues Wiener Journal, Jg. 24, Nr. 8215, 12.9.1916, S. 5] gegangen sei. was meinen Freund MDürMoritz Dürr hatte bis zum Sommer 1878 gemeinsam mit Wedekind die Bezirksschule Lenzburg besucht. Wedekind schrieb seinen Namen in ein chronologisches Verzeichnis am Ende seines Münchner Tagebuchs: „1877 Moritz Dür“ [Tb, nach 22.10.1890 (S. 114)]. Nach seinem Studium in Paris 1884/85 immatrikulierte er sich am 24.11.1885 an der Akademie der Bildenden Künste in München für das Fach Druckgraphik [vgl. Akademie der Bildenden Künste München, Matrikelbuch 3, 1884-1920, https://matrikel.adbk.de/matrikel/mb_1884-1920/jahr_1885/matrikel-00227, Zugriff am 29.8.2024]. betroffen, wirst Du wol auch gehört haben. Es ist das ein unendlich trauriges Geschick und doch nur der/ie/ Au Unterbrechung eines beinah ebenso traurigen Lebenspfp/a/des. Er war eben bei aller Herzensgüte mit einem e/s/ehr unglücklichen Naturel(frz.) Naturell. begabt und dazu hatten ihm die zwei Jahre in Paris allen Idealismus und alle Liebe zu seinem Beruf genommen, der ja an und für sich schon ein halbes Märtyrerthum ist. | Als er letzten Herbst hierher kame, nahm ich ihn in alter Freundschaft auf und führte ihn auch in meinen Bekanntenkreis ein. Aber schon bald nach Neujahr begann er mich, ich weiß nicht warum, zu meiden und wenn ich ihn aufsuchte, ging er mir aus dem Weg. Ich hatte ihn schon drei Wochen lang nicht mehr gesehen, als ich eines Tages von seinen Collegen erfuhr er sei seit acht Tagen verreist und zwar nach Nürenberg und müsse in den nächsten Tagen wieder zurückkommen. J/U/m die selbe Zeit will ihm aber eine Damenicht identifiziert. die ihn genau kannte hier in München auf der Straße begegnet sein. Zwei Tage drauf kam einer S/s/einer Pariser Mitschülernicht identifiziert. mit der Trauerbotschaft zu | mir aufs Zimmer, daß er auf den MythenBergmassiv in den Schwyzer Alpen mit zwei Gipfeln, dem Grossen Mythen (1898 m) und dem Kleinen Mythen (1811 m). gestiegen und nicht wieder heruntergekommen sei. Wir hofften noch Alle zusammen, es mit einem Irrthum oder einer MystificationTäuschung. seinerseits zu thun zu haben, bis uns endlich ein ausführlicherer Briefnicht überliefert; wer der Absender dieses Briefes war und an wen aus der Studentengruppe er adressiert war, ist nicht ermittelt, möglicherweise stammte er von dem Freund, den Moritz Dürr den Zeitungsmeldungen zufolge in Schwyz besucht haben soll [vgl. Mü FW B 35]. und die officielle Anzeigevgl. Ludwig Dürr-Heusler an Wedekind, 25.4.1886. außer allen Zweifel setzte. In den nächsten Tagen wird nun wol sein Vater hierherkommen, der sich meine Adresse hat mittheilen lassen. Seine Effectenbeweglicher Besitz. sind noch sämmtlich hier in München auf seiner Stube; seiner Wirthin„Frau Knapp“ [Ludwig Dürr-Heusler an Wedekind, 29.6.1886]; vermutlich Therese Knapp, geborene Ostler, seit 1886 Ehefrau des Kunstmalers Gottlieb Knapp, Rambergstraße 1, 2. Stock; in unmittelbarer Nähe der Akademie der Künste, an der Moritz Dürr studierte [vgl. Münchner Adressbuch 1886, Teil I, S. 256 und Teil II, S. 381 sowie: Das geistige Deutschland am Ende des XIX. Jahrhunderts. Bd. 1. Die bildenden Künstler. Leipzig 1898= https://wbis.degruyter.com/biographic-document/D469-285-7/images/1]. aber hat er von Schwyz aus ein Billet geschrieben, daß er bald wieder zurückkommen werde. – |

In der Charwoche hab ich fast alle Tage Kirchenmusik gehört, darunter sehr alte von Palästrina. Da nicht geläutet werden durfte, so wurde ähnlich wie auf den türkischen Minarets mit Hülfe einer Klappermaschinedie Karfreitagsratschen, mit denen in katholischen Gegenden von Gründonnerstag bis zum Ostersonntag statt des Glockenläutens zum Gottesdienst gerufen wird. zur Kirche gerufen. Am Ostermorgen brachte mir meiner Wirthin Töchterleinnicht identifiziert; im 3. Stock der Schellingstraße 27, wo Wedekind ein Zimmer hatte, wohnten die Privatierswitwe Maria Fischer und die Aufschlageinnehmerswitwe Auguste Gruber [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil II, S. 416]. einen halben Osterfladen, zwei harte Eier, einigen Schinken, einen Rettig und Salz, alles kirchlich geweiht und gesegnet, zum FrühstückBeim Osterfrühstück werden in katholischen Gegenden traditionell Speisen verzehrt, die im Osterweihkorb mit zu einer der Ostermessen gebracht und gesegnet wurden.. Es ist das hier eine uralte Sitte die halb im Christenthum halb im Judenthum und sogar ein wenig auch im altgermanischen Heidenthum wurzelt. |

Am Nachmittag war ich im Nymphenburger Park und habe einiges gezeichnet. Am Abend ging ich ins ConcertWelches der zahlreichen Münchner Osterkonzerte Wedekind besuchte, ist nicht ermittelt; im Königlichen Odeon fand am 25.4.1886 ein Konzert der Musikalischen Akademie statt mit Werken von Lachner, Brahms und Beethoven [vgl. Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 39, Nr. 114 u. 115, 24.4.1886, 1. Blatt, S. 12]. und nachher traf ich eine Gesellschaft Musiker mit ihren Frauen. Einer war darunter, der, aus Nürenberg gebürtig Bürgerder Cellist Friedrich Hilpert (Theresienstraße 7) [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil I, S. 205]; er war 1865 Mitbegründer des Florentiner Quartetts von Jean Becker, dem er bis 1875 angehörte. Als Solist war er an der k. & k. Hofoper Wien, an der Meininger Hofkapelle sowie der königlichen Hofkapelle in München tätig; seit 1884 auch als Lehrer an der königlichen Musikschule in München. In der Namensliste am Ende seines Münchner Tagebuchs notierte Wedekind 1890: „Fritz Hilpert, Cellist mit Frau“ [Tb, S. 56]. der Stadt Zürich ist. Er ist seiner Zeit mit einem florentiner Quartett in der ganzen Schweiz herumgekommen. Mit WagnerRichard Wagner lebte von 1849 bis 1858 als politischer Flüchtling in Zürich, von 1866 bis 1872 bewohnte er das Tribschener Landhaus am Vierwaldstättersee. war er zuerst in Zürich, später am Vierwaldstättersee. Von Zürich aus ist er in Gesellschaft Wagners oft nach Bendlikon gekommen zum Grafen PlaterDer polnisch-litauische Graf Władysław Plater, seit dem 13.4.1844 verheiratet mit der Schauspielerin Karoline Bauer, lebte seit 1863 in Kilchberg bei Zürich. und dessen Frau; dann auch zu einem gewissen Herrn Obristvermutlich der Arzt Kaspar Obrist aus Kilchberg, der half, Richard Wagners Hund einzuschläfern: „Ich miethete mir einen Kahn, und fuhr eine Stunde weit auf dem See zu einem mir bekannten jungen Arzte, dem Dr. Obrist, von dem ich wusste, dass er mit einer Dorfapotheke verschiedene Gifte acquirirt hatte.“ [Richard Wagner: Mein Leben. Dritter Teil: 1850 – 1861. München 1911, S. 625], der damals in ganz Zürich was Musik anbelangt tonangebend gewesen sein soll. Ich müßte mich sehr irren, wenn du uns nicht bei unserem Aufenthalt | in BendlikonIn Bendlikon am Zürichsee hielt sich die Familie Wedekind erstmals im Sommer 1865 auf, gemeint ist aber wohl die gemeinsame Reise des Vaters mit seinen Söhnen Armin und Frank im Sommer 1872. öfters von dem Herrn Obrist erzählt hast. – Die FrauDie Wienerin Wilhelmine Romano hatte Friedrich Hilpert am 20.6.1870 geheiratet. Sie wird von Wedekind in seinem Münchner Tagebuch mehrfach erwähnt: „Ich breche eine Lanze für Frau Hilpert.“ [Tb, 4.2.1890] dieses Herren ist eine Wienerin, sehr fein gebildet, etwas excentrisch und sehr lustig. Ich hab mich recht gut mit ihr unterhalten.

Jetzt leb wol, lieber Papa; Herzlichste Grüße an Mama und an die Kleinen. Vor allem an Dich selber von Deinem treuen Sohn Franklin.


P. S. Das Collegiengelddas an die Professoren für das Hören ihrer Veranstaltungen zu entrichtende Geld. pressirteilt. gar nicht. Es macht nichts aus, wenn ich es auch erst nächsten Monat erhalte.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
: Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 12,5 x 20 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Die Datierung ergibt sich aus der Angabe „Ostermontag, 86“. Unter das Datum hat Wedekind später mit Bleistift das Datum „27.IV 86“ notiert.

  • Schreibort

    München
    26. April 1886 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
140-142
Briefnummer:
43
Kommentar:
Im Erstdruck mit abweichender Datierung. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 169-171 (Nr. 66).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Frank Wedekind Nachlass. Monacensia (München). Wedekind-Archiv. Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Kommentar:
Blatt 1-4 des Korrespondenzstücks ist im Frank Wedekind-Nachlass (München) archiviert, Blatt 5 dagegen im Wedekind-Archiv (Aarau).

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.4.1886. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (29.09.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

10.09.2024 13:51
Kennung: 5477

München, 26. April 1886 (Montag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Wedekind, Friedrich Wilhelm
 
 

Inhalt

München, Ostermontagder 26.4.1886., 86.


Lieber Papa,

herzlichen Dank für Deinen lieben Briefvgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 20.4.1886 (Briefzitat). und für das MonatsgeldWedekind erhielt von seinem Vater als Student 120 Mark pro Monat [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.1.1886].. Die Ferien sind mir hier ziemlich eintönig vorübergegangen, indem ich keine weiteren Ausflüge unternommen habe. Das war auch wegen der im höchsten Grade unbeständigen Witterung gän fast unmöglich. Indessen hab ich mich die ganze Zeit über ernstlich beschäftigt und dabei doch nicht unterlassen auf vielen Spaziergängen | in die nächst UmgebungSchreibversehen, statt: nächste Umgebung. den aufkeimenden Frühling zu beobachten. Heute hat nun das neue Semester begonnen aber die Vorlesungen werden erst während des Laufes dieser Woche wieder aufgenommen. Das Semester dauert nur 3 ½ Monat und darum gedenk ich nicht viel zu belegen; ich habe immerhin Gelegenheit nebenher noch einige Publiceöffentliche Vorlesungen. zu besuchen und anderweitig zu hospitiren. Ich höre 5stündig Deutsches Handels Wechsel und Seerecht, fünfstündig Kirchenrecht und vierstündig System der Staatswissenschaft und Politik, zusammen 14 Stunden à 4 Mark 56 M = 70 Fr. dazu 6 M für | Umschreiben der Matrikel.

Was Du mir über die beiden jungen Hannoveranerdie Brüder Gustav Henckell, seit 1886 Konservenfabrikant in Lenzburg (Henckell, Zeiler und Cie, später Hero), und Karl Henckell, Schriftsteller, der aufgrund von politischer Verfolgung im Deutschen Reich im April 1886 nach Lenzburg gekommen war. in Lenzburg schriebst hat mich sehr interessirt und ich bin gespannt, die Herren nächsten Sommer k/s/elber kennen zu lernen. Von dem UnglückMoritz Dürr war bei einer Wanderung in den Schweizer Bergen tödlich verunglückt. Wedekind hatte Meldungen dazu aus nicht näher identifizierten Zeitungen ausgeschnitten und aufbewahrt [vgl. Mü FW B 35]; darin hieß es: „Soeben vernehmen wir die Trauerbotschaft, daß letzten Sonntag den 18. dieß der 23jährige talentvolle Kunstschüler der Akademie von München, Moriz Dürr von Burgdorf, Großsohn des Med. Dr. Häusler sel. und ehemaliger Schüler der Lenzburger Bezirksschule am großen Mythen bei Schwyz verunglückt ist.“ Über den Unfallhergang hieß es in einer anderen Meldung: „Vier Mann suchten ihn […] und folgten den Spuren seiner Fußtritte im Schnee. […] in die Kehlen gegen Zwischen-Mythen war aus dem Mythenwege eine große Schneemasse abgestürzt; sie ist unter Dürr’s Schritten, trotz dessen Vorsicht, gewichen, so daß der unglückliche Mann mit der Lawine unrettbar die fürchterliche Fahrt in die Tiefe machen mußte.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 26, Nr. 116, 27.4.1886, Erstes Blatt, S. 2] Schließlich meldete die Presse den Fund des Leichnams: „Die Leiche des Malers Dürr von Burgdorf, welcher trotz allseitiger Abmahnung den Mythen bestieg und verunglückte, ist laut ‚Luz. Tagbl.‘ letzten Samstag Abends im tiefen Schnee am Fuße des Kegels im sogenannten ‚Wannenweidli‘ ziemlich verstümmelt aufgefunden und am Montag nach Burgdorf überführt worden.“ [Der Bund, Jg. 37, Nr. 116, 28.4.1886, S. (4)] Wedekind ging später davon aus, dass Moritz Dürr mit dieser Wanderung „planmäßig an die Ausführung seines Selbstmordgedankens“ [Josef M. Jurinek: Frank Wedekinds literarische Anfänge. Unveröffentlichte Bekenntnisse des Dichters, in: Neues Wiener Journal, Jg. 24, Nr. 8215, 12.9.1916, S. 5] gegangen sei. was meinen Freund MDürMoritz Dürr hatte bis zum Sommer 1878 gemeinsam mit Wedekind die Bezirksschule Lenzburg besucht. Wedekind schrieb seinen Namen in ein chronologisches Verzeichnis am Ende seines Münchner Tagebuchs: „1877 Moritz Dür“ [Tb, nach 22.10.1890 (S. 114)]. Nach seinem Studium in Paris 1884/85 immatrikulierte er sich am 24.11.1885 an der Akademie der Bildenden Künste in München für das Fach Druckgraphik [vgl. Akademie der Bildenden Künste München, Matrikelbuch 3, 1884-1920, https://matrikel.adbk.de/matrikel/mb_1884-1920/jahr_1885/matrikel-00227, Zugriff am 29.8.2024]. betroffen, wirst Du wol auch gehört haben. Es ist das ein unendlich trauriges Geschick und doch nur der/ie/ Au Unterbrechung eines beinah ebenso traurigen Lebenspfp/a/des. Er war eben bei aller Herzensgüte mit einem e/s/ehr unglücklichen Naturel(frz.) Naturell. begabt und dazu hatten ihm die zwei Jahre in Paris allen Idealismus und alle Liebe zu seinem Beruf genommen, der ja an und für sich schon ein halbes Märtyrerthum ist. | Als er letzten Herbst hierher kame, nahm ich ihn in alter Freundschaft auf und führte ihn auch in meinen Bekanntenkreis ein. Aber schon bald nach Neujahr begann er mich, ich weiß nicht warum, zu meiden und wenn ich ihn aufsuchte, ging er mir aus dem Weg. Ich hatte ihn schon drei Wochen lang nicht mehr gesehen, als ich eines Tages von seinen Collegen erfuhr er sei seit acht Tagen verreist und zwar nach Nürenberg und müsse in den nächsten Tagen wieder zurückkommen. J/U/m die selbe Zeit will ihm aber eine Damenicht identifiziert. die ihn genau kannte hier in München auf der Straße begegnet sein. Zwei Tage drauf kam einer S/s/einer Pariser Mitschülernicht identifiziert. mit der Trauerbotschaft zu | mir aufs Zimmer, daß er auf den MythenBergmassiv in den Schwyzer Alpen mit zwei Gipfeln, dem Grossen Mythen (1898 m) und dem Kleinen Mythen (1811 m). gestiegen und nicht wieder heruntergekommen sei. Wir hofften noch Alle zusammen, es mit einem Irrthum oder einer MystificationTäuschung. seinerseits zu thun zu haben, bis uns endlich ein ausführlicherer Briefnicht überliefert; wer der Absender dieses Briefes war und an wen aus der Studentengruppe er adressiert war, ist nicht ermittelt, möglicherweise stammte er von dem Freund, den Moritz Dürr den Zeitungsmeldungen zufolge in Schwyz besucht haben soll [vgl. Mü FW B 35]. und die officielle Anzeigevgl. Ludwig Dürr-Heusler an Wedekind, 25.4.1886. außer allen Zweifel setzte. In den nächsten Tagen wird nun wol sein Vater hierherkommen, der sich meine Adresse hat mittheilen lassen. Seine Effectenbeweglicher Besitz. sind noch sämmtlich hier in München auf seiner Stube; seiner Wirthin„Frau Knapp“ [Ludwig Dürr-Heusler an Wedekind, 29.6.1886]; vermutlich Therese Knapp, geborene Ostler, seit 1886 Ehefrau des Kunstmalers Gottlieb Knapp, Rambergstraße 1, 2. Stock; in unmittelbarer Nähe der Akademie der Künste, an der Moritz Dürr studierte [vgl. Münchner Adressbuch 1886, Teil I, S. 256 und Teil II, S. 381 sowie: Das geistige Deutschland am Ende des XIX. Jahrhunderts. Bd. 1. Die bildenden Künstler. Leipzig 1898= https://wbis.degruyter.com/biographic-document/D469-285-7/images/1]. aber hat er von Schwyz aus ein Billet geschrieben, daß er bald wieder zurückkommen werde. – |

In der Charwoche hab ich fast alle Tage Kirchenmusik gehört, darunter sehr alte von Palästrina. Da nicht geläutet werden durfte, so wurde ähnlich wie auf den türkischen Minarets mit Hülfe einer Klappermaschinedie Karfreitagsratschen, mit denen in katholischen Gegenden von Gründonnerstag bis zum Ostersonntag statt des Glockenläutens zum Gottesdienst gerufen wird. zur Kirche gerufen. Am Ostermorgen brachte mir meiner Wirthin Töchterleinnicht identifiziert; im 3. Stock der Schellingstraße 27, wo Wedekind ein Zimmer hatte, wohnten die Privatierswitwe Maria Fischer und die Aufschlageinnehmerswitwe Auguste Gruber [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil II, S. 416]. einen halben Osterfladen, zwei harte Eier, einigen Schinken, einen Rettig und Salz, alles kirchlich geweiht und gesegnet, zum FrühstückBeim Osterfrühstück werden in katholischen Gegenden traditionell Speisen verzehrt, die im Osterweihkorb mit zu einer der Ostermessen gebracht und gesegnet wurden.. Es ist das hier eine uralte Sitte die halb im Christenthum halb im Judenthum und sogar ein wenig auch im altgermanischen Heidenthum wurzelt. |

Am Nachmittag war ich im Nymphenburger Park und habe einiges gezeichnet. Am Abend ging ich ins ConcertWelches der zahlreichen Münchner Osterkonzerte Wedekind besuchte, ist nicht ermittelt; im Königlichen Odeon fand am 25.4.1886 ein Konzert der Musikalischen Akademie statt mit Werken von Lachner, Brahms und Beethoven [vgl. Neueste Nachrichten und Münchener Anzeiger, Jg. 39, Nr. 114 u. 115, 24.4.1886, 1. Blatt, S. 12]. und nachher traf ich eine Gesellschaft Musiker mit ihren Frauen. Einer war darunter, der, aus Nürenberg gebürtig Bürgerder Cellist Friedrich Hilpert (Theresienstraße 7) [vgl. Adreßbuch von München 1886, Teil I, S. 205]; er war 1865 Mitbegründer des Florentiner Quartetts von Jean Becker, dem er bis 1875 angehörte. Als Solist war er an der k. & k. Hofoper Wien, an der Meininger Hofkapelle sowie der königlichen Hofkapelle in München tätig; seit 1884 auch als Lehrer an der königlichen Musikschule in München. In der Namensliste am Ende seines Münchner Tagebuchs notierte Wedekind 1890: „Fritz Hilpert, Cellist mit Frau“ [Tb, S. 56]. der Stadt Zürich ist. Er ist seiner Zeit mit einem florentiner Quartett in der ganzen Schweiz herumgekommen. Mit WagnerRichard Wagner lebte von 1849 bis 1858 als politischer Flüchtling in Zürich, von 1866 bis 1872 bewohnte er das Tribschener Landhaus am Vierwaldstättersee. war er zuerst in Zürich, später am Vierwaldstättersee. Von Zürich aus ist er in Gesellschaft Wagners oft nach Bendlikon gekommen zum Grafen PlaterDer polnisch-litauische Graf Władysław Plater, seit dem 13.4.1844 verheiratet mit der Schauspielerin Karoline Bauer, lebte seit 1863 in Kilchberg bei Zürich. und dessen Frau; dann auch zu einem gewissen Herrn Obristvermutlich der Arzt Kaspar Obrist aus Kilchberg, der half, Richard Wagners Hund einzuschläfern: „Ich miethete mir einen Kahn, und fuhr eine Stunde weit auf dem See zu einem mir bekannten jungen Arzte, dem Dr. Obrist, von dem ich wusste, dass er mit einer Dorfapotheke verschiedene Gifte acquirirt hatte.“ [Richard Wagner: Mein Leben. Dritter Teil: 1850 – 1861. München 1911, S. 625], der damals in ganz Zürich was Musik anbelangt tonangebend gewesen sein soll. Ich müßte mich sehr irren, wenn du uns nicht bei unserem Aufenthalt | in BendlikonIn Bendlikon am Zürichsee hielt sich die Familie Wedekind erstmals im Sommer 1865 auf, gemeint ist aber wohl die gemeinsame Reise des Vaters mit seinen Söhnen Armin und Frank im Sommer 1872. öfters von dem Herrn Obrist erzählt hast. – Die FrauDie Wienerin Wilhelmine Romano hatte Friedrich Hilpert am 20.6.1870 geheiratet. Sie wird von Wedekind in seinem Münchner Tagebuch mehrfach erwähnt: „Ich breche eine Lanze für Frau Hilpert.“ [Tb, 4.2.1890] dieses Herren ist eine Wienerin, sehr fein gebildet, etwas excentrisch und sehr lustig. Ich hab mich recht gut mit ihr unterhalten.

Jetzt leb wol, lieber Papa; Herzlichste Grüße an Mama und an die Kleinen. Vor allem an Dich selber von Deinem treuen Sohn Franklin.


P. S. Das Collegiengelddas an die Professoren für das Hören ihrer Veranstaltungen zu entrichtende Geld. pressirteilt. gar nicht. Es macht nichts aus, wenn ich es auch erst nächsten Monat erhalte.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 8 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
: Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 12,5 x 20 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Die Datierung ergibt sich aus der Angabe „Ostermontag, 86“. Unter das Datum hat Wedekind später mit Bleistift das Datum „27.IV 86“ notiert.

  • Schreibort

    München
    26. April 1886 (Montag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
140-142
Briefnummer:
43
Kommentar:
Im Erstdruck mit abweichender Datierung. Neuedition: Vinçon 2021, Bd. 1, S. 169-171 (Nr. 66).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Frank Wedekind Nachlass. Monacensia (München). Wedekind-Archiv. Aargauer Kantonsbibliothek (Aarau)
Signatur des Dokuments:
FW B 190
Kommentar:
Blatt 1-4 des Korrespondenzstücks ist im Frank Wedekind-Nachlass (München) archiviert, Blatt 5 dagegen im Wedekind-Archiv (Aarau).

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.4.1886. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (29.09.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Tilman Fischer

Zuletzt aktualisiert

10.09.2024 13:51