Kennung: 1914

Köln, 5. Juni 1881 (Sonntag), Brief

Autor*in

  • Laué, Walter

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

Köln den 5.6.81.

L

Lieber Franklin!

Deinen idyllischen, romantischen Schäferbriefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Walter Laué, 1.6.1881. Wedekind, der die Versetzung in die III. Gymnasialklasse der Aarauer Kantonsschule nicht geschafft hatte, nutzte die ersten Zeit seiner darauffolgenden schulischen Karenz auf Schloß Lenzburg zur Nachahmung eines idyllischen Schäferlebens und schrieb Bucolica (Hirtengedichte), die er „Felix und Galathea“ nannte und ab Mai 1881 seinen Freunden Oskar Schibler, Carl Schmidt, Adolf Vögtlin und Walter Laué zur Kritik vorlegte [vgl. u. a. die ausführliche Schilderung in Wedekind an Schibler, 18.5.1881]. Die Bucolica übertrug Wedekind noch im Sommer 1881 in ein Heft gleichen Namens, das ihm bei seiner Flucht 1898 nach Zürich verlorenging [vgl. Weinhöpel an Wedekind, 15.3.1905]. Unter dem Titel „Felix und Galathea. Fragment“ erschien am 2.1.1908 der Erstdruck eines bearbeiteten Teildrucks der Bucolica. Vgl. KSA 1/II, S. 1538-1542. hab ich erhalten. Es hat mich sehr gefreut auch einmal etwas von Dir zu hören. Du schreibst zwar du hättest mir schon einmal geschriebenvgl. Wedekinds Brief an Walter Laué vom 11.-28.2.1881., doch habe ich keinen andern als den letzten Brief erhalten. Ich erkläre mir seinen Verlust dadurch, daß Du in der Zeit, wo das DamoklesschwertWalter Laué bezog sich mit der Redewendung auf die Wochen vor Ostern 1881, in denen Wedekind darum gebangt hatte, in die dritte Klasse des Gymnasiums versetzt zu werden, was ihm letztlich verwehrt worden war. über Deinem Haupte hing du ihn in irgend einer Rocktasche Deines Kleidervorrathes vergessen hast. Oder ist es nicht so? Ich glaube ich kenne doch noch meinen Franklin!? Ich möchte Dich gerne da oben auf Lenzburg als Wolf im SchafspelzeRedewendung in Anlehnung an Matthäus 7, 15. idyllisiren sehn! Hast Du auch eigentliche Schafe zum weiden oder nimmst Du als eure Esel (es kommt ja so genau nicht darauf an); jedenfalls hast d/D/u d/D/ich, wie es scheint, in eine poesievolle Rococoschäfergestalt verwandelt, wie dies aus d/D/einem Gedichte hervor geht! Lernen mußt Du Armer nun auch fürchterlich, denn Dein Privatlehrernicht ermittelt; Schibler gegenüber behauptete Wedekind, daß er bei 2 ½ Franken die Woche Privatstudien treibe [vgl. seine ausführliche Schilderung in Wedekind an Schibler, 18.5.1881]. wird Dich wohl straff anspannen! Aarau hat jedenfalls einen der bedeutenstenSchreibversehen, statt: bedeutendsten. Dichter der JetzzeitSchreibversehen, statt: Jetztzeit. schmählich verkannt, sonst hättest Du unbedingt promovirtSchweizerdeutsch für: versetzt. werden müssen. |

doch – der Prophet gilt nie was im eignen LandeAus der Bibel entlehntes Sprichwort nach Matthäus 13,57b: „Ein Prophet gilt nirgend weniger, denn in seinem Vaterland und in seinem Hause.“ [Büchmann 1879, S. 29]..

Von mir kann ich Dir nun glücklicherweise mittheilen, daß ich eine Classe höher gestiegen bin. Ich bin hier wieder ganz gut ein gelebtSchreibversehen, statt: eingelebt. und die Schweizer-VergangenheitDie Kölner Familie Laué hatte von Juni 1880 bis Anfang Februar 1881 im bei Lenzburg gelegenen Wildegg, dem Stammsitz der Unternehmerfamilie Laué et Cie gelebt. Während dieser Zeit waren Walter Laué und sein jüngerer Bruder Jakob Friedrich Laué in die Aarauer Kantonsschule gegangen. Vgl. die Korrespondenz mit der Schule im Staatsarchiv Aargau. Alte Kantonsschule. DE02-0166-03. kommt mir vor wie ein Traum. Alle meine alten Freunde habe ich wieder und für Fr. H.Bertha Hoch, die Tochter des Samenhändlers Gustav Hoch und Schülerliebe von Walter Laué. vielfachen Ersatz. Meine Muse ruchte eine Zeit lang, da ich sehr viel Schularbeiten hatte, doch jetzt bringt sie hoffentlich wieder neue Früchte. Einige Gedichte habe ich schon gemacht z. B. der Sturm, das Schloß am See, Frühlingsidee, zwei Seiten, der Traum, Barbarossa und einige Distichengriechisch, für: Zweizeiler. Verspaare oder zweizeilige Strophen.. Auch mit dem Plane zu einem kleinen Trauerspiel trage ich mich herum, doch bis jetzt sind nur erst 3 Scenen des ersten Aktes fertig. Es heißt Dario/u/s KodomannosZum gymnasialen Schulstoff, der auch Wedekind und Walter Laué geläufig war, gehörte der Aufstieg Alexander des Großen und damit die berühmten Schlachten bei Issos (333) und Gaugamela (331), in denen er das Perserreich unter dem persischen König Dareios III. Kodomannos bezwang. Ein Drama von Walter Laué ist nicht ermittelt.. Wer weiß wann’s fertig wird?

Wie oft möchte ich nicht noch mit Dir herumbummeln! Ich sehne mich wirklich nach Dir, obgleich Du es eigentlich nicht verdienst da Du mir 4 Monate kein Lebenszeichen von Dir gegeben hast? Doch „versunken und vergessen“ wir wollen uns jetzt keine Vorwürfe machen. Schreibe mir jetzt um so häufiger. Hoffentlich gibt Dir Dein Vater Taschengeld um die kolossalen Ausgaben | für Couvert, Papier, Dinte, Feder und Freimarke zu bestreitenVermutlich hatte Wedekind in dem erschlossenen Korrespondenzstück diese Entschuldigung für die Briefschuld vorgebracht, so wie er schon in seinem Brief vom 11.-28.2.1881, den Walter Laué nicht erhalten hatte, das fehlende Geld fürs Porto als Ausrede benutzt hatte.! Also lebe mir herzlich wohl und weide Deine LämmerAnspielung auf Johannes 21, 15-19., weide Deine Schafe.

Dein treuer
Walter Laué.
II a ×In mehreren Verbindungen, wie z. . der Schülerverbindung Industria Aarau, der Wedekind angehörte, steht das „x“ für das Amt des Präsidenten und wird hinter den Namen des Amtsträgers gestellt. In dieser Bedeutung dürfte das Zeichen auch Walter Laué verwendet haben..

Gestörte Idylle.

Leise tönen von der hohen Lenzburg,
l/L/eise, heimelnd Schäfermelodieen.
Sieh! ein Schäfer sitzet auf dem Steine
(Gästen hier zum Ruhesitz bereitet)
Auf dem Haupt den breiten Hut den filz’gen
Schief und keck aufs’ linke Ohr gedrücket;
Um die vollen starken, sehn’gen Glieder
s/S/chlingt ein blendend weißes, zartes Schafsfell
Wie ein Lorbeer um die hohe Eiche,
Sich herum. –––

In dem Grase weiden weiße Schäflein
Streng bewacht vom treuen Hunde Caro,
Der dem Wink des strengen Herrn gehorsam
Treu bewacht die Heerde, daß kein Wolf sich
Unheilvoll ihr nahe, kleine Schäflein
Zu zerreißen –––

Und die klare Luft balsamisch duftend
Wehete Frühlingslüfte aus dem Süden.
Ferne zeigen, glitzernd sich die Alpen
Ew’gen Schnee um ihre Häupter tragend
Unberührt vom Feuerkuß der Sonne.

–––

O! glücklich denkt ihr wem ein solches Leben
Fortunain der griechischen Mythologie die Glücks- und Schicksalsgöttin.’s segensvolle Hand
In ihrer schwankenvermutlich Schreibversehen, statt: schwankend. Laune hat gegeben!
O seht nur – ach die Illusion verschwand.|

Er stehet auf, er reckt die riesen Glieder
Ein Bierbaß-liedLied für eine tiefe Stimme. Als Bierbaß wird im Schweizerdeutschen der Adamsapfel genannt. mit schrillem Ton
Macht zittern, Stein und Wald und Flieder
Und Panin der griechischen Mythologie der von den Hirten verehrte Gott des Waldes und der Natur. Das Zwitterwesen, halb Mensch, halb Widder oder Ziegenbock, liebt Musik, Tanz und Fröhlichkeit und spielt die Syrinx genannte Hirten- oder Panflöte. und NympfenSchreibversehen, statt: Nymphen. In der griechischen Mythologie weibliche Naturgeister; hier dürften Wald- und Baumnymphen gemeint sein, die als Begleiterinnen des wollüstigen Pan bekannt sind. fliehn davon

–––

Entsetzen greift den Menschen der es höret
die schöne Illusion zerrinnt
Und er der diesen schönen Traum g/z/erstöret
ist Gott – der Franklin Wedekind.

Sic transit gloria mundi.lateinisch, für: So vergeht die Herrlichkeit der Welt! – Bei der Krönungszeremonie des Papstes gesprochener Anfang eines lateinischen Kirchenliedes, um an die Vergänglichkeit des Papstes zu erinnern [vgl. Büsching 1879, S. 314].

W. L.

N. B. Du schriebst mir ich möchte Dein Gedicht scharf kritisiren. Ja wenn was dran zu kritisiren wäre. Es ist ganz schön nur scheint mir der Schluß a/z/u abgebrochen, man erwartet noch einige Strophen!

Bitte recesnsire mein Idyll ebenfalls mit der poëtischen GoldwageSchreibversehen, statt: Goldwaage..

Schreibe bald einmal!

Salve amice!lateinisch, für: Sei gegrüßt, Freund!

Χαῖρε ξεῖνεgriechisch, für: Freue Dich, Gast!

D. Obige.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 2 Blatt, davon 4 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 11 x 17,5 cm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Briefbogen mit aufgedrucktem L in Blumenornamentik. Am Fuß der dritten Seite ist von Walter Laué ein „Verte“ vermerkt. Auf der vierten Seite sind die letzten beiden Strophen der Idylle am Rand mit rotem Buntstift markiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    Köln
    5. Juni 1881 (Sonntag)
    Sicher

  • Absendeort

    Köln
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 98
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Walter Laué an Frank Wedekind, 5.6.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

27.08.2024 13:35