Zürich,
d. 3. Febr. 82.
Lieber Franklin!
Nachdem ich von Dir die gewünschtenvgl. Sutermeister an Wedekind, 31.1.1882. Versprechungen erhaltennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Sutermeister, 1.2.1882. habe,
sende ich Dir hiemit beiliegend Deine Ernennung zum
„Amicus Helvetiae philosophicae(lat.) Freund der philosophischen Schweiz..“
Diese Ernennung legt Dir keine Pflichten auf (denn sonst
hätte man Dich zuerst angefragt, ob Du diesen Titel annehmest oder nicht),
dagegen wird dieser Titel Dir für die Zukunft gewisse Rechte zusichern.
Welche? das wird Dich die Zukunft lehren. | Du wirst nun natürlich wissen
wollen, was denn dieser Titel für Dich zu bedeuten hat. Höre, mein Sohn:
Am OstersonntagDas war der 17.4.1881.
des Jahres 1881 p. Chr. n. wurde von nach einjähriger Vorberathung von fol
den S drei Schweizerbürgern
1.) Moriz Sutermeister von Zofingen, geb. d. 3. März 1862 in Aarau.
2.) Johann Otto
WullschlegerDer Sohn eines Landwirts machte mit Wedekind im Frühjahr 1884 an der Aargauer Kantonsschule Abitur und studierte ab Frühjahr 1884 an den Universitäten Zürich und München Jura und promovierte Ende 1887 erfolgreich zum Dr. jur. Er wurde Gerichtspräsident in Zofingen und war viele Jahre Chef der Sektion für Rechtswesen des Kreises 3 der Schweiz. Bundesbahnen in Zürich. Politisch engagierte er sich in der demokratischen Bezirkspartei Zürich, deren Präsident er wurde [vgl. Die Tat. Schweizerische unabhängige Tageszeitung, Jg. 13, Nr. 340, 10.10.1948, S. 4 sowie Universität Zürich, Matrikeledition, http://www.matrikel.uzh.ch/active/static/24398.htm, 3.6.2021]. von Zofingen, geb. d. 1.
Nov. 1863 in Zofingen.
3.) Fürchtegott
Carl RingierDer Sohn eines Stationseinnehmers in Zofingen besuchte Gymnasium und Universität in Basel, wo er 1892 zum Dr. med. promovierte. Er praktizierte in Bern, heiratete 1893 und hatte zwei Söhne, von denen er den älteren 1919 begraben musste [vgl. Der Bund, Eidgenössisches Zentralblatt und Berner Zeitung, Jg. 70, Nr. 207, 16.5.1919, Erstes Blatt, S. 6 und Historisches Familienlexikon der Schweiz, http://www.hfls.ch/humo-gen/family/1/F29356/I85129/, 3.6.2021]. von Zofingen, geb. d. 22. Okt. 1865
in Zofingen. |
zu Zofingen im Aargau der BundDer Bund ist unter keinem der drei Namen „Libera Helvetia philosophica“ (Freie Philosophische Schweiz), „Helvetia philosophica“ (Philosophische Schweiz) oder (sive) „Philosophica Helvetica“ (Philosophisches aus der Schweiz) ermittelt.
„Libera Helvetia philosophica“
sive
„Helvetia philosophica“
sive
„Philosophica Helvetica“
gegründet u. demselben die erste Bundesverfassung gegeben.
Dieser Bund ist meine Idee. Ich bin der Stifter (daher oben № 1.)
– der Esel voran!)
Das Gr unabänderliche Grundprinzip u. Grundgesetz
unseres Bundes, in dem zugleich das ganze Wesen desselben ausgedrückt ist,
lautet: „Der Bund | Libera Helvetia philosophica will in Ewigkeit,
dass die schweizerische Eidgenossenschaft sei wie sie ihrer Idee gemäss sein
soll!“
Wie die schw. Eidg. ihrer Idee gemäß sein soll, das soll vom
Bunde durch vorurtheilsfreie Forschung gefunden werden. Doch nicht nur forschen
will unser Bund u. seine Glieder, er will auch seine Bestrebungen stets nach
seinen Ueberzeugungen, die durch philosophische d. h. vorurtheilsfreie Forschung gefunden werden soll, richten; denn das ist die wahre
Philosophie, deswegen nennt sier sich Helv. philos.
|
Ich will mich nun kurz fassen: Ausführlicher wird Dir unsern
Bund mein Bundesbruder O. Wullschleger, der ja Dein
Klassenkamerad ist, schildern. Dieser mein Brief soll Dir bei ihm als
Legitimation dienen. Ich erlaube hiemit meinem B.-Bruder O.
Wullschleger, als Bundespräsident der Helv. phil. dem „Amicus Helvetiae philosophicae“ Franklin Wedekind Alles
mitzutheilen, was er vom/n/ unserem Bunde weiß. – Ich rathe Dir
meinem B.[-Bruder O. W. unter 4 Augen zu
eröffnen, Du wollest ihm eine gewissen Mittheilung auf seiner Bude
machen! Er wird natürlich überrascht sein, denn er weiß nicht, daß ich Dir
unser B.-Geheimniß mittheilte, obschon er mich schon oft
darum angieng, Dich zum Eintritt | in unsern Bund zu bewegen. Auf seiner Bude
eröffnest Du ihm dann, daß Du ihm etwas vorzulesen habest u. liesest ihm dann
meinen Brief vor u. forderst ihn in meinem Namen auf Dir zu sagen, was er weiß
u. was Du von ihm fragst puncto
Bund. Doch mache ich Dich nochmals darauf aufmerksam auf Deine
Silentium-Versprechungen u. ersuche Dich mit größter Vorsicht vorzugehen, damit
ja Niemand Verdacht schöpfe, es liegt dies in Deinem wie in unserem Interesse.
Doch genug: ich zähle auf Deine Klugheit! –
A propos: Es ist Euch erlaubt unsern B.-Bruder Hermann
RüetschiHermann Rüetschi hatte zunächst das zweijährige Progymnasium der Kantonsschule Aarau durchlaufen und wechselte dann zur Gewerbeschule. Dort besuchte er im Schuljahr 1881/82 als einer von acht Schülern die II. Klasse, die er im Schuljahr 1882/83 wiederholen mußte. Er gehörte (als Schüler der dritten Klasse) zusammen mit seinem Klassenkameraden und Freund Eugen Rohner zu den jungen Menschen in Wedekinds Umfeld, die sich das Leben nahmen: Nach einem Vereinsabend des Kantonsschülerturnvereins erschossen sich die beiden jungen Männer in der Nacht vom 23. auf den 24.6.1883 mit einem Revolver jeweils durch Schläfenschuss. Den aufsehenerregenden Doppelselbstmord, der nicht nur in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, sondern auch zu einer Disziplinaruntersuchung an der Aargauer Kantonsschule führte, thematisierte Frank Wedekind in dem wenige Tage später entstandenen Gedicht „Sancta Simplicitas“ [vgl. KSA 1/I, S. 97-101 (Text) und KSA 1/II, S. 2006-2013 (Erläuterungen)] als auch in seinem Drama „Frühlings Erwachen“ (1891): „Im Sommer 1883 ereignete sich an der übrigens sehr freiheitlich geleiteten Kantonsschule in Aarau der Unglücksfall, der mir sieben Jahre später die Anregung zu ‚Frühlings Erwachen‘ gab.“ [Frank Wedekind: Vorbemerkung zu „Sancta Simplicitas“. In: Schriftsteller Verleger und Publikum. Eine Rundfrage. Zehnjahreskatalog Georg Müller Verlag. München 1913, S. 137, zitiert nach KSA 2, S. 801; die Schulakten zur Untersuchung befinden sich im Staatsarchiv Aargau DE02/0173/10]., II. Gewerb., beizuziehen! –
Unser Bund zählt gegenwärtig 7 Mit|glieder
(Helvetier) in 5 Sektionen:
1.) Sektion Aarau.
1.) Otto Wullschleger, Präses d. Sektion.
2.) Hermann Rüetschi in Suhr.
2.) Sektion Basel.
3.)1.)
Carl Ringier, Präses.
Adresse: C. R., Gymnasiast bei Hrn. Gonser-Gossweiler,
Byfangweg №14.
3.) Sektion Strassburg i/E.
4.) Carl HuberCarl Huber hatte im Frühjahr 1880 an der Kantonsschule Aarau die Hochschulreife erlangt [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule. Als Einladung zu den vom 5. April an abzuhaltenden Schulprüfungen und der öffentlichen, am 10. April 1880 stattfindenden Jahres-Censur. Aarau 1880, S. 12] und studierte in Genf, später auch in Berlin und Straßburg, deutsche, französische und englische Philologien [vgl. (Nachruf:) Dr. phil. Carl Huber-Jacobi. In: Die Berner Woche, Jg. 31, Nr. 27, 5.7.1941, (S. 2)]. v Zofin Oberkulm,
geb. 1860., stud. phil., Präses.
Adresse: Zürcherstrasse № 8.
4.) Sektion Genf.
5.) Adolf VögtlinMoriz Sutermeister und Armin Wedekind hatten im Frühjahr 1881 gemeinsam mit Adolf Vögtlin die Matura an der Kantonsschule erlangt. v. Brugg geb
1861., stud. phil., Präses.
Adresse: chez Mr..Roussy-Albrecht, rue du Conseil général. 14.
5.) Sektion Zürich.
6.) Camill HoffmannDer in Aarburg und Zürich aufgewachsene Camill Hoffmann studierte seit dem Sommersemester 1881 an der Universität Zürich Theologie. Ende 1885 verließ er die Universität, wurde 1886 zum Pfarrer nach St. Moritz berufen, war 1888-1916 Präsident des dortigen Sommer- und Winterkurvereins (ab 1910: Kur- und Verkehrsverein) und organisierte die Engadiner Wintersportausstellung 1907 in Berlin. Ob Wedekind ihn kennengelernt hat, konnte nicht ermittelt werden [vgl. zur Biographie Cordula Seger, Bettina Plattner-Gerber. Engadin St. Moritz. Ein Tal schreibt Geschichten – A Valley with Stories to Tell (zweisprachig). Zürich 2016, S. 24-29; vgl. auch Matrikel Zürich].
v. Aarburg,
geb. in Zofingen 1861., stud. theol., Präses d.
Sektion Zürich.
Adresse: Fraumünsterstrasse 17. Zürich. |
7.) Moriz Sutermeister, Bundespräses.
Name: Eintritt:
1.) Sutermeister. 17. IV. 1881.
2.) Wullschleger. 17. IV. 1881.
3.) Ringier. 17. IV. 1881.
4.) Hoffmann. 14. VI. 1881.
5.) Rüetschi. 2. VIII. 1881.
6.) Huber. 8. X. 1881.
7.) Vögtlin. 6. I. 1882.
–––
Bundeswappen u. -devisen soll Dir W.
mittheilen. Ebenso soll er Dir die
Bundeszeitungen zeigen, die hektographirtDer Hektograph ermöglichte die Vervielfältigung eines Schriftstücks ohne Druckerpresse. Dazu wurde eine Platte mit einer elastischen Masse aus Leim und Glycerin eingerieben und ein Papier, das mit einer dickflüssigen, viel Anilin enthaltenden Tinte beschrieben worden war, auf die Leimplatte gedrückt. Mit dem von der Leimmasse festgehaltenen Teil der Tinte konnten 60 bis 100 Kopien angefertigt werden, indem je ein weißes Blatt Papier mäßig stark auf die Leimplatte gedrückt wurde [vgl. Brockhaus’ Konversations-Lexikon. 14. vollständig umgearbeitete Auflage. 8. Bd. Leipzig 1902, S. 1007]. werden. Doch soll er absolut Nichts aus seiner
Wohnung weggeben! W. soll recht gesprächig Dich in das Wesen
unseres B. einführen! Ich hoffe recht bald von Dir
einen Bericht über Deinen Besuch bei W. zu
erhalten. Zu Beantwortung von Fragen bin ich natürlich gerne bereit. Solltest
Du, als Amerikaner (Nichtdeutscher) u. Republikaner,
wünschen stimmberechtigtes Mitglied unseres Bundes zu werden so kann Dir Dein
Wunsch unter gewissen Bedingungen Versprechuch/n/gen
gewährt werden! B Grüsse mir meine 2 Aarauer B.-B!
Verzeihe mir, daß ich Dir auf solches Papier schrieb, ich hatte eben momentan
keine andres zur Hand.
[Beilage:]
Herrn Franklin
Wedekind.
auf Schloss Lenzburg.
im
Aargau.
Theile mir Empfang dieses Briefes gefl spätestens bis 8. Febr. mit, damit ich weiss ob Du ihn
erhalten od nicht! |
Ernennung.
Unterzeichneter ernennt hiemit den Herrn Franklin
Wedekind von San FranciscoFrank Wedekind wurde nicht in San Francisco, sondern in Hannover geboren, war aber, da sein Vater Friedrich Wilhelm Wedekind die amerikanischer Staatsbürgerschaft besaß, ebenfalls amerikanischer Staatsbürger [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 158].,
geb. 1864., Gymnasiast, wohnhaft auf Schloss Lenzburg im Aargau, in Hinblick
auf dessen lebendiges Interesse für philosophische Forschung u.
freundschaftliche Gesinnung gegenüber den Mitgliedern des Bundes „Helvetia
philosophica“ zum „Amicus Helvetiae philosophicae“ u. gesteht demselben
alle Rechte zu, die einem „Amicus“ unseres Bundes zukommen.
Namens der „Helvetia philosophica“:
Der Bundespraeses.
Z.I.A.
Zürich, d. 3. Febr. 1882.