Schloß
Lenzburg, 18. Mai 1881.
Lieber Oskar,
Ohne viele Entschuldigungen oder Entschuldigungsversuchen
gestehe ich Dir in kindlichem Vertrauen meinen großen Fehler ein, Dich so lange vernachlässigtAm 14.4.1881 hatte Wedekind bei der öffentlichen Bekanntgabe der Prüfungsnoten an der Kantonsschule Aarau erfahren, daß er nicht in die dritte Gymnasialklasse versetzt worden war. Offenbar hatte er sich bei den Schulfreunden weder in den anschließenden Schulferien, die bis zum 30.4.1881 dauerten, noch danach gemeldet. zu
haben, aber wenn Du mich wirklich so liebst, daß Dich Diese Vernachlässigung
schmerzte, so wirst Du sie mir auch ohne viel Bedenken auf meine
aufrichtige Reue hin vergessen. Zudem wirst Du es mir auch gnädigst verzeihen,
daß ich in meinem principiellem/n/ Egoismus meistens nur von mir spreche
in diesen/m/ Brief. So höre nun!: Aus meiner FahrtWedekind beabsichtigte, die schulische Ausbildung an der Kantonsschule Solothurn fortzusetzen [vgl. Kutscher 1, S. 33]. nach Solothurn wurde es diesen Frühling noch nichts, sie
ist bis zum Herbst verschoben aus verschiedenen Rücksichten. Nun führe ich hier
ein idyllisches, glückliches Landleben, indem ich bei 2 ½ fr.
Gehalt di per Woche Privatstudien treibe. | Obgleich
ich auch wenig unter die Leute komme, so schützt mich dennoch meine lebhafte
Phantasie in Verbindung mit einer phantastisch-schönen Natur vor alles/r/
Langeweile. Auch die Muse
hat sich aus den philisteriösennicht studentischen, (spieß)bürgerlichen.
Stadtbezirken, zurückgezogen, sie verachtet nun ihre früheren,
trockenen BierpoesieenWedekinds Dichtungen, die er eigens für die wöchentlichen Klassen- oder Vereinskneipen angefertigt hatte.
und streift durch Felder und Wälder, dem Flug der Vögel und dem Rauschen des
Baches nach indem sie in idyllischen
Schäfergedichtenseit der Antike beliebte Gattung der Poesie, die das Leben der Rinderhirten und Schäfer idealisiert; nach den Hauptwerken der Gattung auch als bukolische, arkadische oder pastorale Dichtung bezeichnet. mich und meine schöne Schäferin Galatea(lat.) die Milchweiße; in der griech. Mythologie eine Nymphe (Naturgottheit), die unter anderem aus den bukolischen Dichtungen Theokrits (Idyllen) und Ovids (Metamorphosen) bekannt ist [vgl. KSA 1/II, S. 1572f.]. besingt. Galatea ist nämlich ein ganz
abstracter Begriff, dem durchaus kein nichts in der Wirklichkeit
entspricht; sie lebt nur als Ideal Ideal einer schönen
Schäferin in meiner Phantasie. Du wirst begreifen, daß ich in dieser
Schäfersphäre auch viel mit Nymphenin der griech. Mythologie weibliche Naturgottheiten des Wassers (Najaden), der Bäume (Dryaden) und der Berge (Oreaden).
und Oreaden zusammens/k/omme, welches ein leichtes Volk ist und
sehr gern mit sich Bockspringen läßt. Ich kann übrigens nicht umhin dir das
schönste alles/r/ meiner BucolicenWedekind hatte für seine „Felix und Galathea“ genannte Hirtendichtung ein blaues Büchlein, betitelt „Bucolica“ angelegt, dass ihm in der Zeit seiner Flucht nach Zürich im Herbst 1898 abhanden kommen sollte [vgl. Wedekind an Weinhöppel, 8.3.1905].
mitzutheilen. Dasselbe stammt aus der 1. Periode meines Schäferlebens, wo ich
mich noch erst an den Schafen erquickte und noch keinen Br/e/griff
hatte von dem Genuß einer Galatea, die mich überhaupt erst in die lockeren
Cirkel | der Nymphen und Oreaden hineinlockte. Dies BucoliconDas folgende Gedicht [abgedruckt in KSA 1/I, S. 54] hat Wedekind nicht in die publizierten Fassungen „Felix und Galathea“ übernommen. [vgl. zur fragmentarischen Überlieferung der Bucolica KSA 1/II, S. 1546-1554]. lautet:
Des Morgens mit ihrem Blöcken
Thun mich die Schafe erwecken
Im herrlichsten Sonnenschein.
Und Abends blöcken die Schafe
Mich in den süßesten Schlafe. –
O seelig, ein Schäfer zu sein!
„Entzückend! – Bezaubernd!“ höre ich Dich ausrufen, aber im
nächsten Briefe schreibe ich Dir ein Lied aus der 2. Periode. Jenes wirst Du
nicht mehr höhren, jenes wirst Du fühlen am ganzen Leibe. Gestern war
ich Bei meinem Frater(lat.) Bruder; Frank Wedekinds Bruder Armin.(lat.) Bruder.
und Sutermeister in Zürich und habe mit ihnen Ca++/oll/egiaArmin Wedekind und Moriz Sutermeister hatten nach der Matura am 27. April 1881 gemeinsam das Studium in Zürich aufgenommen [vgl. http://www.matrikel.uzh.ch/active/static/21661.htm und http://www.matrikel.uzh.ch/active/static/23376.htm, abgerufen 4.8.2021].
geschunden und flott geknippen. Daß sie Beide bald in weißen MützenDie beiden Freunde traten am 18.5.1881 in die nichtschlagende Studentenverbindung Zofingia ein [vgl. ebd.]. Die Mitglieder trugen weiße Tellermützen und rot-weiß-rote Bänder und waren dem Wahlspruch Patriae, Amicitiae, Litteris (für Vaterland, Freundschaft und Wissenschaft) verpflichtet. aufrücken werden, sollte ich
Dir eigentlich nicht mittheilen./,/ aber Du hast es wohl schon lange
geahnt. Es wäre nicht unmöglich, le daß ich in nächster Zeit vielleicht
einmal nach Aarau
komme. Darum schreibe mir wann ihr Classen- oder VereinskneipeOskar Schibler war Mitglied des Kantonsschülerturnvereins Aarau (KTV Aarau), der ältesten Mittelschulverbindung der Schweiz. habt. Grüße die
ganze 3. Gym. von ihrem alten Haus, besonders den
sentimentalen Durrer
und den unschuldigen Bryner
und vor allein/m/ Deine eigene Herrlichkeit. Auch an Zschocke darftSchreibversehen, statt: darfst. Du in | meinem Namen
Deine edlen Worte verschwenden, H. Prof. Dr. Samuel
Uphues nicht zu vergessen, der, wie ich höreDer Hintergrund dieser wohl witzig gemeinten Behauptung Wedekinds bleibt unklar. Möglicherweise steht sie im Zusammenhang damit, dass der unverheiratete, ehemalige Priester Dr. Goswin Karl Uphues, der Deutsch und Griechisch an der Kantonsschule Aarau unterrichtete, 1881 zur evangelischen Kirche übergetreten war., glücklicher Vater
unglücklicher Zwillinge
einer Un unglücklichsten Mutter sein soll geworden ist. H.
LeupoldEdward Leupold unterrichtete seit Oktober 1879 am Gymnasium der Kantonsschule Aarau Geschichte und in der ersten Klasse auch Latein. Er hatte ausschlaggebend dazu beigetragen, dass Wedekind im Frühjahr 1881 nicht versetzt worden war, indem er ihm eine „5“ (ungenügend) in Geschichte ins Zeugnis schrieb [vgl. 1879/1884 Aargauische Kantonsschule Gymnasium: Zeugnissheft für Franklin Wedekind in Aargauisches Kantonsarchiv. Wedekind Archiv B, Schachtel 8, Nr. 170]., dem guten
Jungen, darft Du in
meinem Namen einen Fußtritt in effigie(-m)(lat.) in effigie (Ablativ): bildlich; in effigiem (Akkusativ): in das Abbild.
verabreichen, und ich ließe ihn/m/ ein wohlgemeinteSchreibversehen, statt: wohlgemeintes. „Gehe in DichBeliebte Redewendung; hier vielleicht in Anlehnung an Ludwig Tieck: „Geh in dich, beßre dich, mein lieber Sohn“ [Ludwig Tieck: Leben und Tod der heiligen Genoveva. Drama 1799. In: Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Bd. 2, München 1963, S. 461]. und
bessre Dich“! zurufen. – Ich brauche Dir doch wohl nicht noch auf die Seele zu
binden, Du möchtest mir doch recht bald alles n/N/eue und Interessante
aus Aarau und Umgebung in meine Einsamkeit berichten, Du möchtest Deinen ganzen
FamilienkreisOskar Schibler, dessen leiblicher Vater 1872 tödlich verunglückt war, lebte in in einer Patchworkfamilie am Zollrain 179 in Aarau [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau 1881, S. 13; Adress-Buch Aarau 1884, S. 31]. Zum Familienkreis gehörten der Stiefvater, Obergerichtsschreiber Joseph Keller-Franke, die Mutter Wilhelmine, geborene Franke, verwitwete Schibler, der jüngere Bruder Alfred Schibler und der Stiefbruder Hermann Keller. Der ältere Bruder Wilhelm Schibler, der mit Armin Wedekind eine Klasse besucht hatte, studierte seit dem Frühjahr 1881 in Genf.
ergebenst von mir grüßen? – Auch vergiß nicht unsere projectirte C/K/unstreise,
die ich nunmehro als Schäfer aus der Campanie antreten werde. Und nun leb wohl!
seih herzlich Vergieß niemals Deinen unendlich treuen Freund:
Franklin
Wedekind a/g
Kater, Schäfer aus der K/C/ampania, Privatdocent auf Schloß
Lenzburg, Nachtstuhlfabrikant mit Schaukelvorrichtung, nebst Familie.
Datum XIIX,
18.V.1881.
in arce veris cum maxima amicitia.(lat.) auf dem Gipfel des Frühlings in größter Freundschaft. Amen!
[am linken Rand:]
Grüße auch Calr Carl Schmidt und ich ließe ihn nochmals um Verzeihung bittenDer Schulfreund Carl Schmidt, der schon die vierte Gymnasialklasse besuchte, hatte sich bei Wedekind beschwert, daß er und Schibler durch Fremde erfahren mussten, welche Pläne Wedekind, nachdem er nicht in die dritte Klasse der Aarauer Kantonsschule versetzt worden war, verfolgte [vgl. Schmidt an Wedekind, 6.5.1881]..