Kennung: 206

München, 13. März 1900 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Bjørnson, Bjørnstjerne

Inhalt

Sehr geehrter Herr Bjoernson,

Ihr SchwiegersohnAlbert Langen, seit dem 10.3.1896 mit Dagny Bjørnson, der Tochter Bjørnstjerne Bjørnsons, verheiratet. scheint sich noch immer nicht von dem Gedanken trennen zu können, dass ich ihm mit dem Ertrag meiner Arbeit die Kosten bezahlen soll, die ihm aus seinem speculativen SchurkenstreichWedekind war der Auffassung, in der Majestätsbeleidigungsaffäre um den „Simplicissimus“ (im konfiszierten Heft sein inkriminiertes Gedicht „Im heiligen Land“), die ihm Gefängnis und Festungshaft eingebracht hatte (siehe unten), habe Albert Langen „die Konfiszierung im Sinne einer Marketing-Maßnahme bewußt inszeniert, um die Verkaufsauflage des ‚Simplicissimus‘ zu erhöhen“ [KSA 1/II, S. 1711], was er dem Schwiegervater Albert Langens schon früher noch von der Festung Königstein aus zu verstehen gegeben hatte [vgl. Wedekind an Bjørnstjerne Bjørnson, 28.9.1899]. erwachsen, mit dem er mich um meine StellungWedekind war bis zu seiner Flucht aus München am 30.10.1898 infolge des drohenden Haftbefehls in der Majestätsbeleidigungsaffäre um den „Simplicissimus“ [vgl. KSA 1/II, S. 1710] als Schauspieler [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898], Dramaturg und Sekretär am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) engagiert gewesen [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443]. betrogen und mich auf vier Monate in’s GefängnisWedekind hatte sich am 2.6.1899 in Leipzig den Behörden gestellt, wurde in Untersuchungshaft genommen und saß nach dem Majestätsbeleidigungsprozess in Leipzig am 3.8.1899 in Gefängnishaft [vgl. KSA 1/II, S. 1710] in der „Gefangen-Anstalt Leipzig“ [Leipziger Adreß-Buch für 1899, Teil II, S. 39], bis er am 21.9.1899 als Häftling auf die Festung Königstein überführt wurde (siehe unten). und auf vier Monate auf die FestungWedekind, der zunächst wegen Majestätsbeleidigung in Leipzig im Gefängnis saß (siehe oben), wurde zu Festungshaft begnadigt und war seit dem 21.9.1899 auf der Festung Königstein inhaftiert, aus der er am 3.2.1900 entlassen wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1710]. gebracht hat. Ich würde Sie | mit dieser Angelegenheit nicht weiter behelligen, wenn mir nicht gesternam 12.3.1900, an dem Wedekind in München Max Halbe getroffen und mit ihm über Bjørnstjerne Bjørnson und dessen Schwiegersohn Albert Langen gesprochen hat. Herr Dr. Max Halbe die Ansicht ausgesprochen und mir gegenüber vertheidigt hätte, dass Sie von Ihrem Schwiegersohn Albert Langen pecuniär abhängigWedekind war davon ausgegangen, Bjørnstjerne Bjørnson sei finanziell unabhängig [vgl. Wedekind an Bjørnstjerne Bjørnson, 28.9.1899]. seien und pecuniäre Unterstützungen von ihm empfiengen. Herr Max Halbe steht mit niemandem in München in lebhafterem Verkehr als mit Korfiz Holm, dem hiesigen VertreterKorfiz Holm, leitender Redakteur des „Simplicissimus“ und Prokurist des Albert Langen Verlags, der die Verlagsgeschäfte für den infolge der „Simplicissimus“-Affäre im Exil lebenden Verleger Albert Langen führte [vgl. Abret/Keel 1989, S. 12]. Albert Langens. Deshalb gewinnt das Gerücht, das ich schon vor anderthalb Jahren in | München und vorher schon in Berlin gehört hatte und dem ich damals nicht den geringsten Glauben beimass, für mich ungemein an Bedeutung. Als Sie übrigens nach Langens perfider FluchtAlbert Langen, dem wie Wedekind im Zuge der Majestätsbeleidigungsaffäre um den „Simplicissimus“ (siehe oben) als Verleger und Herausgeber Verhaftung drohte, floh noch vor Wedekind in die Schweiz, wobei als „Rechtfertigung dieser Flucht“ Korfiz Holm zufolge „geschäftliche Erwägungen im Vordergrund“ [Abret/Keel 1987, S. 69] standen. fortfuhren, in der liebenswürdigsten Weise mit ihm zu correspondieren und er mir Ihre BriefeBjørnstjerne Bjørnsons Briefe an Albert Langen, die Wedekind entweder noch Ende 1898 in Zürich oder Anfang 1899 in Paris zu sehen bekommen hat; veröffentlicht sind nur die Gegenbriefe [vgl. Helga Abret: Unveröffentlichte Briefe von Albert Langen an Björnstjerne Björnson. In: Skandinavistik 13 (1983), Heft 2, S. 123-138]. zeigte, war ich nahe daran, in dem Gerüchte die volle Wahrheit zu erblicken. Wie das meine Art ist, stellte ich Albert Langen sofort zu rede und liess mir Ihre Vermögensverhältnisse von ihm aufs genaueste auseinandersetzen. Dadurch wurde mein Verdacht geh beseitigt. Wenn ich mich jetzt aber hier in München | über Langen’s speculativen Schurkenstreich beklage, dann muss ich mir von Leuten wie Max Halbe entgegnen lassen, dass bei Albert Langen an eine derartige Speculation gar nicht zu denken sei, da Langen mit seinem enormen Reichtum ja auch seinen Schwiegervater unterstütze. Wie es mit Langens Reichtum bestellt ist weiss ich; mir persönlich wäre aber der Gedanke, auch für Sie, Herr Bjoernson, im Gefängnis gesessen zu haben äusserst sympathisch; er würde mir die Erinnerung an jene Tage wesentlich verklären. Ich werde mir aber dieses Verdienst | auf keinen Fall beimessen, bevor ich es von Ihnen bestätigt erhalten habe. Dass Sie mir auf meine an Sie gerichteten Zeilen vom 20. Februarnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Bjørnstjerne Bjørnson, 20.2.1900. nicht geantwortet haben, finde ich begreiflich; der Brief war auch nicht darauf eingerichtet. Ich rechne aber des bestimmtesten darauf, auf diese Zeilen hier eine Antwort von Ihnen zu erhalten. Sie haben mir unaufgefordert Ihren Rat erteiltBjørnsterne Bjørnson hatte den in Albert Langens Wochenschrift „Simplicissimus“ veröffentlichten politischen Gedichten Wedekinds im Sommer 1898 in München die „glühendsten Complimente“ [Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898] gemacht und ihm geraten, bei diesen Gedichten zu bleiben [vgl. Wedekind an Bjørnstjerne Bjørnson, 28.9.1899]., bevor ich die Bekanntschaft des Gefängnisses gemacht hatte, die Ihrem Schwiegersohn glücklich erspart gebliebenAlbert Langen, der im Exil in Paris und Rom lebte, hat im Zuge der Majestätsbeleidigungsaffäre um den „Simplicissimus“ (siehe oben) keine Haftstrafe verbüßt; er kehrte, „nachdem einem Begnadigungsgesuch stattgegeben worden war und er ein ‚Bezeigungsquantum‘ [...] in Höhe von 20.000 Mark gezahlt hatte“ [KSA 1/II, S. 1710], am 8.5.1903 „nach viereinhalb Jahren Exil als freier Mann nach München zurück.“ [Abret/Keel 1989, S. 103] ist; deshalb darf ich jetzt wol auch um | so mehr darauf rechnen, auf eine höflich gestellte Frage eine AntwortFritz Strich hat im Erstdruck zum vorliegenden Brief angemerkt (ohne Beleg): „Der Brief wurde Wedekind von Bjoernson ohne weitere Antwort zurückgegeben.“ [GB 2, S. 358] zu erhalten.

Hochachtungsvollst und ergebenst
Frank Wedekind.


München, den 13. März 1900.
Hotel Bamberger HofWedekind, der nach seiner Haftentlassung am 3.2.1900 aus der Festung Königstein nach Aufenthalten in Dresden und Leipzig zurück nach München gekommen war, logierte zunächst im Bamberger Hof [vgl. Wedekind an Walther Oschwald, 4.3.1900], einem Gasthof (Neuhauserstraße 26) [vgl. Adreßbuch von München für das Jahr 1900, Handels- und Gewerbe-Adreßbuch, S. 109], bevor er eine eigene Wohnung bezog.


[Kuvert:]


Einschreiben.


Herrn Bjoernstjern Bjoernson
Aulestat.
Norwegen.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 3 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. 2 Doppelblatt. Seitenmaß 12,5 x 20 cm. 6 Seiten beschrieben. Gelocht. Kuvert. 13 x 10,5 cm. 1 Seite beschrieben. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben. Kuvert im Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Das Kuvert ist mit einem Aufkleber versehen, auf den ein rotes „R“ = Recommandé (frz.) = Einschreiben aufgedruckt ist (außerdem: „München 1 Einschreiben. No 789“); es enthält einen Stempelaufdruck „Faaberg“ und ist mit einer um 90 Grad nach rechts gedreht aufgeklebten Briefmarke von 40 Pfennig frankiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Uhrzeit im Postausgangsstempel München: „12 – 1 Nm.“ (= 12 bis 13 Uhr). Keine Uhrzeiten in den weiteren Poststempeln. Bei den Zwischenstempeln – „PKXP No. 44“, Christiania (heute: Oslo) und Nordbanernes – handelt es sich Bahnpoststempel (PKXP = Postkupéexpeditioner). Der Posteingangsstempel Faaberg enthält weder Datum, noch Uhrzeit. Faaberg liegt 12 km entfernt von Aulestad und dürfte das nächstliegende Postamt gewesen sein.

  • Schreibort

    München
    13. März 1900 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Zwischenstation

    Bahnpoststempel („PKXP No. 44“)
    16. März 1900 (Freitag)
    Sicher

  • Zwischenstation

    Christiania (heute: Oslo)
    16. März 1900 (Freitag)
    Sicher

  • Zwischenstation

    Nordbanernes
    17. März 1900 (Samstag)
    Sicher

  • Zwischenstation

    Faaberg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Berlin
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Zweiter Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
42-43
Briefnummer:
173
Kommentar:
Im Erstdruck ist beide Male „Schurkenstreich“ zu „....streich“ gekürzt und die dritte Erwähnung Max Halbes durch Auslassungspunkte („von Leuten wie ....... entgegnen lassen“) ersetzt.
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 194
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Bjørnstjerne Bjørnson, 13.3.1900. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (28.01.2025).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Cordula Greinert

Überarbeitet von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

29.11.2024 18:25