Schloss
Lenzburg, im schönen Monat Mai. 1881.
Lieber Oscar,
Zu meinem grossen Bedauern seh ich aus Deinem ganzen Briefevgl. das Brieffragment Oskar Schibler an Wedekind, 22.05.1881. Wedekind verweist im Folgenden auch auf Textpassagen, die nicht aus dem überlieferten Teil des Briefes stammen., dass i/I/hr
in der That viel zu schaffen habt, dass Du wenigstens sehr beschäftigt bist.
Inmassen dieser Erwägung werd ich Dir auch gnädig alle die Mängel verzeihen,
die ich an Deinem Werthen Schreiben entdeckt habe. Aber vor allem Anderen:
Nichts für ungut! Auf d/D/einen Antrag hin, ich
solle einen Vorschlag machen, über eine allfällige Zusammenkunft, wiederhole ich Dir die Bittevgl. Wedekind an Oskar Schibler, 18.5.1881.,
mir zu schreiben, wann ihr Vereinst- oder Klassenkneipe abzuhalten
geruhet, auf dass ich altes Haus wieder einmal meine alten treuen Kameraden,
vor | Allen aber Dich meinen getreuen Oscar, Auge in Auge herzlich begrüssen
kann. Was Deinen Bitte
wegen einem Stück für den Maturitätswix anbelangt, so frg/a/ge ich Dich
nach Stoff und Art (tragisch, sentimental, fideel, picant); übrigens ist es
bis dahin noch ein gehöriger
ZeitraumErst am 30.9.1881 wurde an der Kantonsschule Aarau die nächste Abiturabschlussklasse, das war die IV. Klasse der Gewerbeschule, verabschiedet, die dann traditionsgemäß an demselben Abend ihre erlangte Hochschulreife mit einem Festcommers feierte., in welchem wir uns wohl einmal sehen werden. Das versprochene LiedVielleicht war der „Zwiegesang zwischen Felix, dem Schäfer, und Galathea, der Schäferin“ gemeint [vgl. KSA 1/II, S. 1543 – Text in KSA 1/I, S. 573f.].,
welches Du am ganzen Leibe fühlen solltest, schicke ich Dier lieber
nicht in Hinsicht auf die Schwäche deines Nervensystems. Hingegen schicheSchreibversehen, statt: schicke. ich Die/r/ das
getreue Abbild meiner schönen Schäferin
GalateaDie Beilage fehlt. – Eine mit „Galatea“ betitelte Bleistiftzeichnung, die „ein ernstes, gereiftes Frauenporträt im Halbprofil“ zeigt [KSA 1/II, S. 1543], befindet sich in einem Skizzenbuch mit der Aufschrift „Album“, das Einträge zwischen Weihnachten 1882 und September 1897 enthält [Blatt 3r, vgl. auch KSA 1/I, S. 778]., wel von
meiner eigenen Hand, welches ich einst in einer süssen Schäferstunde ihr
abgenommen habe. Du wirst mir ihre Schönheit scharf rezensiren, ebenso, wie ich
Dir den/in/ Carmen(lat.) Lied.
nunmero scharf rezensire: Ich, Franklin Wedekind o/g KaterBier- oder Kneipname Wedekinds bei den Klasssen- und Vereinskneipen., gebe
folgendes, unmassgebliches Urtheil über HildebrandBier- oder Kneipname Oskar Schiblers.s Carmen: felix e. ct:Felix, qui poterit mundum contemnere! ist der Schlußvers aus einem Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Lied: „Nil tuum dixeris Quod potes perderé, Quod mundus tribuit Intendit rapere. Superna cogita, Cor sit in aethere: Felix qui potent Mundum contemnere. (lat.) Was sich verlieren läßt, eigne sich keiner an! Die Welt nimmt ihr Geschenk wieder von jedermann. Denk’ an das Bleibende, Herz, strebe himmelan: Selig ist in der Welt, wer sie verachten kann!“ [zitiert nach Johannes Scherr: Allgemeine Geschichte der Literatur: ein Handbuch in zwei Bänden. Bd. 1, Stuttgart 1875, S. 155]. ab, un|massgeblich, l weil ich,
als Epiker, einen Meister in Lyrik nicht wage entgültig zu recensiren, sondern
eben nur unmassgeblichst zu berathen: Nun scheint mir aber, dass Überschrift
und Text nicht übereinstimmen, weil Hildebrand eben in der Welt ein
Geschöf/p/f gefunden hat, was ihn fesselt, was ihn emporzieht. Er kann
mithin nicht die Welt verachten. Ich rufe ihm aber zu: „Verlangend HerzSchlussvers aller Strophen aus dem Gedicht „Entsagung“ (1857) des 1879 in Zürich gestorbenen Schweizer Dichters Heinrich Leuthold [vgl. Die Deutsche Gedichtebibliothek, in: https://gedichte.xbib.de/Leuthold_gedicht_009.+Entsagung.htm, 2.8.2021]., sei Du Dir selbst genug.“ Wenn
der Verfasser diesen Rath befolgt hat, dann mag er von Weltverachtung sprechen.
Setze also eine andere Überschrift und das Carmen ist nach meinem
unmassgeblichsten Urtheil untadelhaft in Form und Inhalt. Ich lobe Dich nicht,
Hildebrand, aber das soll d/D/ir das grösste Lob sein, dass ich über dem
Gedicht den Meister und das ihm gebührende Lob vergessen habe. – Dass euer werther VereinHier dürfte Wedekind den Kantonsschülerturnverein Aarau (KTV Aarau) gemeint haben, in dem Oskar Schibler aktives Mitglied war. Neben dem KTV – Wahlspruch: mens sana in corpore sano (lat.) ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – existierten hier noch zwei weitere Aarauer Mittelschulverbindungen, die Industria – Wahlspruch: Amicitia et Scientia. (lat.) Freundschaft und Wissenschaft – und die Argovia – Wahlspruch: Litteris et Amicitiae et Patriae. (lat.) Gelehrsamkeit, Freundschaft, Vaterland. so
bedeutend gewachsen ist, freut mich von ganzem Herzen, Du hast mir aber auch
nicht geschrieben, wie Bryner,
Zschokke, DurrerDrei Schüler der dritten Gymnasialklasse, die mit Wedekind und Oskar Schibler befreundet waren., Uphues und LeupoldDie beiden Lehrer hatten Wedekind bis zu seiner Nichtversetzung im Frühjahr 1881 unterrichtet, Uphues in Deutsch und Leupold in Geschichte. meine Grüsse
auf|genommen haben. Der III.
Gymnasi wollte ich als Ersatz ihrer für ihre Treue mir gegenüber
ein Present machen, nähmlich eine klassische Uebersetzung des aargauischen KantonsschulreglementAktuell gültig war vermutlich das 18-seitige „Reglement für die Kantonsschule vom 18. April 1876“, das der Regierungsrat des Kantons Aargau 1876 herausgegeben hatte. Eine „Zusammenstellung der wichtigsten reglementarischen etc. Bestimmungen“ wurde alljährlich zum Schuljahresbeginn im „Programm der Aargauischen Kantonsschule“ abgedruckt [vgl. ebd. zum Beispiel aus dem Jahr 1881, S. 4-8]. in anmuthige Knittelverse. Das
Werk kam aber nicht zu Stande und deshalb muss sich die III. GymnasiSchreibversehen, statt: Gymnasii. – Von den ursprünglich 17 Schülern der zweiten Gymnasialklasse waren in der dritten nur noch 11 übriggeblieben. mit meinem
guten Willen begnügen. Hingegen lasse ich Sie wiederum herzlich grüssen und
ebenso d/D/ich, meinen lieben Oskar und Dank sei Dir für d/D/einen lieben Brief und ich erwarte in Bälde
wider so einen mit poetischer Beilage. Nun erlaube mir aber die Frage, die mir
unwillkürlich bei d/D/einem Carmen aufgestossen ist, ob Du nämlich noch immer ein gläubiger
Theïst bist, oder ein ob d/D/u, wie ich ahne ein
zweifelnder Atheïst
geworden. Nun leb wohl und ke nim meine aufrichtige CondulationSchreibversehen, statt: Condolation (lat.) Beileidsbekundung. deines Hundelebens
in Aarau wegen hin.
In alle Ewigkeit Dir treu ergeben Dein
Kater, Schäfer auf
S. Lenzburg.