Kennung: 2186

Lenzburg, 30. Juni 1881 (Donnerstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Vögtlin, Adolf

Inhalt

Schloß Lenzburg, VI.1881.


Lieber Altervon Wedekind verwendeter Aliasname Adolf Vögtlins, den dieser möglicherweise auch bei den wöchentlichen Kneipen benutzte.!

Allerdings versprach ich Dir, als wir in Aarau von einander Abschied nahmenAdolf Vögtlin hatte am 14.4.1881 die Maturität erhalten und bald darauf, zum Sommersemester 1881, das Studium an der Universität Genf aufgenommen., und Du mir einen guten Rath für den künftigen LebenswegAdolf Vögtlin an Wedekind, 14.4.1881. in die Hand drücktest, Dir recht bald mitzutheilen, wohin mich das Schicksal geführt habe. Trotz den besten Vorsätzen kam ich aber bis jetzt noch nicht zur Lösung meines Wortes. Ich kann und will mich nicht entschuldigen, aber bitten will ich Dich, ob Du mir nicht diese Nachlässigkeit verzeihen wolltest. Nicht wahr, Du verzeihst mir?

Bis jetzt bin ich noch zu Hause gewesen, und habe meine Kenntnisse durch PrivatstudienWedekind, der im April 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau versetzt worden war, erhielt seitdem auf Schloss Lenzburg Privatunterricht. gepflegt, jetzt gedenke ich aber bei Nächstem nach Solothurn abzureisenan die Kantonsschule Solothurn, wo Wedekind die Schullaufbahn fortsetzen wollte [vgl. auch seine Korrespondenz mit Oskar Schibler].. Gestern Nachmittag kam ich mit Carl SchmidtCarl Schmidt, der mit Wedekind und Adolph Vögtlin befreundet war, besuchte im Schuljahr 1881/82 die IV. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau und bestand im Frühjahr 1882 die Maturitätsprüfung. in Wildegg zusammen. Nachdem ich ihm meine ländlichen Schäfergedichte, in denen sich nunmehr meine Muse bewegt, vorgelesenWedekind hatte für seine Hirtendichtung ein blaues Büchlein, betitelt „Bucolica“ angelegt, dass ihm in der Zeit seiner Flucht nach Zürich im Herbst 1898 abhanden kommen sollte [vgl. Wedekind an Weinhöppel, 8.3.1905]. Über die Gedichte korrespondierte er 1881 auch mit Walter Laué und Oskar Schibler. hatte, erzählte er mir ein langes und breites von seiner Liebe zu E. Ich wunderte mich nicht wenig, wie aus einer so harmlosen Freundschaft, von der er in Aarau ehedem sprach, eine so innige, feurige Liebe gedeihen könnte. Im höchsten Grade tragisch wurde er aber, als er mir schilderte, welchen namenlosen Kampf es gekostet habe, um sich von dieser Liebe loszureißen, um dieselbe in sich zu tilgen. Ich begriff nun nicht ganz | recht, wie man gegen seine Liebe kämpfen kann, da sie doch eigentlich nicht aus dem eigenen Willen entspringt, sondern mehr passiver Natur, eben eine Leidenschaft ist, und eine geliebte Person kann einem doch unmöglich durch einen plötzlichen Entschluß gleichgültig werden. Nicht wahr, lieber Alter? Auch auf mein armes Herze hat AmorLiebesgott in der römischen Mythologie. wieder losgedrückt. Du wirst nämlich begreifen, daß ich zu dem idyllischen Schäferleben, das ich hier oben führe, auch eine Schäferin brauche. Zu dem Ende schuf ich mir im Geiste ein Ideal und nannte dasselbe Galathea(griech.) die Milchweiße, in der griechischen Mythologie Meeresnymphe und schönste Tochter der Meeresgottheiten Nereus und Doris, in der antiken Dichtung beliebter Name für schöne Schäferinnen [vgl. KSA 1/II, S. 1574]., da sich schlechterdings keine von Lenzburgs Töchtern dazu herbeilassen wollte, die Stricknadel mit dem Hirtenstabe zu vertauschen. Mit besagter Galathea sitze ich aber nun an schönen Sommertagen auf grüner Au, im Schatten der dichtbelaubten Buche und hüte meine – Esel, da die eigentlichen Schafe hier in der Umgegend so selten sind. Auf beiliegendem BlattDie Beilage fehlt. wirst Du die Versedas Gedicht „Willkommen schöne Schäferin“, das Wedekind später „Frühling“ nannte [vgl. KSA 1/II, S. 1581]. Adolf Vögtlin bezog sich in seinem Antwortbrief auf die letzte Strophe des Gedichts [vgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 2.7.1881]. finden, mit denen ich die Königin meines Herzens bei unserem ersten Zusammentreffen empfing, nebst ihrem werthen BildnisEine mit „Galatea“ betitelte Bleistiftzeichnung, die „ein ernstes, gereiftes Frauenporträt im Halbprofil“ zeigt [KSA 1/II, S. 1543], befindet sich in einem Skizzenbuch mit der Aufschrift „Album“, das Einträge zwischen Weihnachten 1882 und September 1897 enthält [Blatt 3r, vgl. auch KSA 1/I, S. 778]., welches ich ihr einst in einer süßen Schäferstunde eigenhändig abgenommen habe. Nun aber leb wohl; du siehst, daß ich von meinem Pessimismus so weit geheilt bin, und wieder die schönere Seite des Lebens zu finden weiß. Grüße den lieben Pölderich, Schibler und SigristDie Genfer Medizinstudenten Leopold Frölich, Wilhelm Schibler und Hans Sigrist hatten mit Adolf Vögtlin, Moriz Sutermeister und Armin Wedekind die Kantonsschule Aarau besucht und am 14.4.1881 die Maturität erlangt. von mir und dem großen Sutermeister, den ich jüngstFür Juni 1881 ist keine Reise nach Zürich ermittelt. Über einen Besuch am 17.5.1881 in Zürich bei Moriz Sutermeister und Armin Wedekind, die am 27.4.1881 an der dortigen Universität immatrikuliert worden waren, berichtete Frank Wedekind Oskar Schibler [vgl. Frank Wedekind an Oskar Schibler, 18.5.1881]. in Zürich traf. Falls Du mir antworten solltest, schreib nur noch nach Lenzburg; wenn ich schon fort bin, wird man mir den Brief schon schicken, aber in alle Ewigkeit verbleibt Dir treu

Dein Dich innig liebender
Franklin Wedekind.

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 0 Blatt, davon 0 Seiten beschrieben

Sonstiges:
Das Korrespondenzstück ist nur im Druck überliefert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Als Ankerdatum ist der 30.6.1881 angenommen. Der Brief, auf den Adolf Vögtlin am 3.7.1881 antwortete, ist mit Monat („Juni“) und Jahr („1881“) datiert, das späteste mögliche Tagesdatum ist der 30.

  • Schreibort

    Lenzburg
    30. Juni 1881 (Donnerstag)
    Ermittelt (unsicher)

  • Absendeort

    Lenzburg
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Genf
    Datum unbekannt

Erstdruck

Gesammelte Briefe. Erster Band

Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Fritz Strich
Ort der Herausgabe:
München
Verlag:
Georg Müller
Jahrgang:
1924
Seitenangabe:
19-20
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Es gibt keine Informationen zum Standort.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Adolf Vögtlin, 30.6.1881. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Anke Lindemann

Zuletzt aktualisiert

06.06.2023 13:23