Schloß
Lenzburg, VI.1881.
Lieber Altervon Wedekind verwendeter Aliasname Adolf Vögtlins, den dieser möglicherweise auch bei den wöchentlichen Kneipen benutzte.!
Allerdings versprach ich Dir, als wir in Aarau von einander Abschied nahmenAdolf Vögtlin hatte am 14.4.1881 die Maturität erhalten und bald darauf, zum Sommersemester 1881, das Studium an der Universität Genf aufgenommen., und Du mir
einen guten Rath für den
künftigen LebenswegAdolf Vögtlin an Wedekind, 14.4.1881. in die Hand drücktest, Dir recht bald mitzutheilen,
wohin mich das Schicksal geführt habe. Trotz den besten Vorsätzen kam ich aber
bis jetzt noch nicht zur Lösung meines Wortes. Ich kann und will mich nicht
entschuldigen, aber bitten will ich Dich, ob Du mir nicht diese Nachlässigkeit
verzeihen wolltest. Nicht wahr, Du verzeihst mir?
Bis jetzt bin ich noch zu Hause gewesen, und habe meine
Kenntnisse durch PrivatstudienWedekind, der im April 1881 nicht in die III. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau versetzt worden war, erhielt seitdem auf Schloss Lenzburg Privatunterricht.
gepflegt, jetzt gedenke ich aber bei Nächstem nach Solothurn abzureisenan die Kantonsschule Solothurn, wo Wedekind die Schullaufbahn fortsetzen wollte [vgl. auch seine Korrespondenz mit Oskar Schibler].. Gestern Nachmittag kam ich mit Carl SchmidtCarl Schmidt, der mit Wedekind und Adolph Vögtlin befreundet war, besuchte im Schuljahr 1881/82 die IV. Klasse des Gymnasiums der Kantonsschule Aarau und bestand im Frühjahr 1882 die Maturitätsprüfung. in Wildegg zusammen. Nachdem
ich ihm meine ländlichen Schäfergedichte, in denen sich nunmehr meine Muse
bewegt, vorgelesenWedekind hatte für seine Hirtendichtung ein blaues Büchlein, betitelt „Bucolica“ angelegt, dass ihm in der Zeit seiner Flucht nach Zürich im Herbst 1898 abhanden kommen sollte [vgl. Wedekind an Weinhöppel, 8.3.1905]. Über die Gedichte korrespondierte er 1881 auch mit Walter Laué und Oskar Schibler.
hatte, erzählte er mir ein langes und breites von seiner Liebe zu E. Ich wunderte mich
nicht wenig, wie aus einer so harmlosen Freundschaft, von der er in Aarau
ehedem sprach, eine so innige, feurige Liebe gedeihen könnte. Im höchsten Grade
tragisch wurde er aber, als er mir schilderte, welchen namenlosen Kampf es
gekostet habe, um sich von dieser Liebe loszureißen, um dieselbe in sich zu
tilgen. Ich begriff nun nicht ganz | recht, wie man gegen seine Liebe kämpfen
kann, da sie doch eigentlich nicht aus dem eigenen Willen entspringt, sondern
mehr passiver Natur, eben eine Leidenschaft
ist, und eine geliebte Person kann einem doch unmöglich durch einen plötzlichen
Entschluß gleichgültig werden. Nicht wahr, lieber Alter? Auch auf mein armes
Herze hat AmorLiebesgott in der römischen Mythologie. wieder
losgedrückt. Du wirst nämlich begreifen, daß ich zu dem idyllischen
Schäferleben, das ich hier oben führe, auch eine Schäferin brauche. Zu dem Ende
schuf ich mir im Geiste ein Ideal und nannte dasselbe Galathea(griech.) die Milchweiße, in der griechischen Mythologie Meeresnymphe und schönste Tochter der Meeresgottheiten Nereus und Doris, in der antiken Dichtung beliebter Name für schöne Schäferinnen [vgl. KSA 1/II, S. 1574]., da sich schlechterdings keine von
Lenzburgs Töchtern dazu herbeilassen wollte, die Stricknadel mit dem
Hirtenstabe zu vertauschen. Mit besagter Galathea sitze ich aber nun an schönen
Sommertagen auf grüner Au, im Schatten der dichtbelaubten Buche und hüte meine
– Esel, da die eigentlichen Schafe hier in der Umgegend so selten sind. Auf beiliegendem BlattDie Beilage fehlt. wirst Du die Versedas Gedicht „Willkommen schöne Schäferin“, das Wedekind später „Frühling“ nannte [vgl. KSA 1/II, S. 1581]. Adolf Vögtlin bezog sich in seinem Antwortbrief auf die letzte Strophe des Gedichts [vgl. Adolf Vögtlin an Wedekind, 2.7.1881]. finden, mit denen
ich die Königin meines Herzens bei unserem ersten Zusammentreffen empfing,
nebst ihrem werthen BildnisEine mit „Galatea“ betitelte Bleistiftzeichnung, die „ein ernstes, gereiftes Frauenporträt im Halbprofil“ zeigt [KSA 1/II, S. 1543], befindet sich in einem Skizzenbuch mit der Aufschrift „Album“, das Einträge zwischen Weihnachten 1882 und September 1897 enthält [Blatt 3r, vgl. auch KSA 1/I, S. 778].,
welches ich ihr einst in einer süßen Schäferstunde eigenhändig abgenommen habe.
Nun aber leb wohl; du siehst, daß ich von meinem Pessimismus so weit geheilt
bin, und wieder die schönere Seite des Lebens zu finden weiß. Grüße den lieben Pölderich, Schibler und SigristDie Genfer Medizinstudenten Leopold Frölich, Wilhelm Schibler und Hans Sigrist hatten mit Adolf Vögtlin, Moriz Sutermeister und Armin Wedekind die Kantonsschule Aarau besucht und am 14.4.1881 die Maturität erlangt. von mir und dem
großen Sutermeister,
den ich jüngstFür Juni 1881 ist keine Reise nach Zürich ermittelt. Über einen Besuch am 17.5.1881 in Zürich bei Moriz Sutermeister und Armin Wedekind, die am 27.4.1881 an der dortigen Universität immatrikuliert worden waren, berichtete Frank Wedekind Oskar Schibler [vgl. Frank Wedekind an Oskar Schibler, 18.5.1881]. in Zürich traf. Falls Du mir
antworten solltest, schreib nur noch nach Lenzburg; wenn ich schon fort bin, wird man mir
den Brief schon schicken, aber in alle Ewigkeit verbleibt Dir treu
Dein Dich innig liebender
Franklin
Wedekind.